8779 .
Kund um die erde.
„Woeste, Karl, die Sache jefüllt mir »ich; wenn die Kerls so weiter-
loofen, kommen se schließlich von die andere Seite nach Berlin!"
<5^ ftoüelfpäne. eT
Menschheit, hüll' dich in trauernde Flore,
Schaudernd mehre dem jubelnden Chore,
Der dir frohlockend „Siege" verkündet.
Jahrtausende lang schon wütet der Kampf,
Jahrtausende lang schon steiget der Dampf
Blutiger Opfer hoch in die Lüste.
Sage, Menschheit, wann wirst du genesen?
Sage, wann wird erleichtert man lesen:
Ewiger Friede bindet die Erde?
Noch fallen Opfer im heftigen Streit,
Noch werden Flüsse vom Blute breit.
Noch glüht kein Frührot des werdenden Tags.
Wann wird das Gottergeschenk, das Denken,
Den Menschen endlich die Schritte lenken?
Wann wird der Opfer genug sein im Krieg?
Auf dem bei Abschluß des Krieges in Aussicht zu nehmenden Friedens-
kongreß soll der erste Punkt der Tagesordnung lauten: Allgemeine
Zurücknahme der gegenseitig so reichlich ausgeteilten Titel: Lügner,
Schwindler, Erpresser, Giftmischer und Meuchelmörder.
König Viktor Emanuel hat beschlossen, bei weiterem ebenso günstigen
Fortgang der Operationen den Titel eines Großkaisers des Mittelmeers
anzunehmen.
Welche Enttäuschung! Statt des Sonnenscheins der Freiheit er-
halten die Völker Rußlands nur de» Kriwoschein des Kabinetts.
Ihr getreuer Säge, Schreiner und Landstürmer.
Der Zensor.
Wer ist der Stärkste im deutschen Land?
Der Zensor.
Der Sieges- und Parlamentsbericht,
Der Feldbrief, das Kriegslied entrinnet nicht
Dem Zensor.
Ein blasser Schreck saßt jung und alt
Vorm Zensor,
Kommt durch den Blätterwald gesaust.
Den Rotstift in der nervigen Faust
Der Zensor.
Besiegt wird jeder Feind, nur nicht
Der Zensor.
Ach Lindenburg, du Russenschreck,
Wann treibst du auch aus Deutschland weg
De» Zensor?
&Gs
Petersburger Depeschen.
Montag. Die Umgruppierung unserer Armee und
ihre Offensive steht bevor.—Die Wertgegenstände aus
Riga »nd Wilna werde» »ach Dnnaburg in Sicher-
heit gebracht.
Dienstag. Die Dentschc» gerieten in die Falle
von Brest-Litowsk. — Die Wertgegenstände werden
ans Diinaburg nach Petrograd in Sicherheit gebracht.
Mittwoch. Der Feind erlitt vor Olita einen Rcin-
sall: er hat seine Belagerungsgeschütze ganz zwecklos
in Aufstellung gebracht. — Die Wertgegenstände wer-
den ans Petrograd nach Moskau gebracht.
Donnerstag. Die Deutschen haben sich in die
Rokitnosümpfe locken lassen, ürra! — DicWcrtgegcn-
stände werden aus Moskau nach Nischni-Nolvgorod
in Sicherheit gebracht.
Freitag. Die Deutsche» finden den Rückweg nicht
mehr und gerate» aus Vcrzlvciflung immer lveiter
nach Oste». — Die Wertgegenstände werden aus
Nischni-Rowgorod nach Smolensk in Sicherheit ge-
bracht.
Sonnabend. Unsere Offensive n»d die Vernich-
tung der Deutschen steht unmittelbar bevor. — Die
Wertgegenstände werden ans Smolensk »ach Tomsk
in Sibirien i» Sicherheit gebracht.
Sonntag. Hindenburg nähert sich Petrograd,
wie es heißt, um sich zu ergebe». — Der Zar wird
nicht in Sicherheit gebracht, da er kein Wertgegen-
stand ist....
Lieber Jacob!
Wenn man sich dem Rickzug der russischen
Heldenscharen an de östliche Front bekiekt, denn
niuß man an de Wahrheit des Sprichivortes
irre werden: „Jeschwindigkeitis keeneHexerei!"
Diese Art von Jeschwindigkeit jrenzt jedenfalls
schon stark an die vierte Dimension, wat um
so merkivirdijer is, weil doch bet Janze ur-
sprünglich als Dampfwalze jedacht ivar, die
sich bekanntlich immer mit eene besondere jra-
vitätische Ruhe zu beivejen flegt. Aber seitdem
det der Betrieb nach de andere Richtung erst
mal in Schivung jekommen is, kennt er keen
Halten »ich mehr, un jeden jeschlagenen Tag
wird een neier Platz ausjereimt un weiter je-
zogen, un wenn dann de Deitschen hinkommen,
is schon nllens leer un se haben bloß noch det
Verjniejen, de Wohnung auszumisten. Etscheint,
als ob de janze russesche Armee ans lauter Rick-
kompagnien bestehen tut — so fein verstehen
de Brieder det Jeschäft. Allerdings kommt et
sie ja z>l statten, det an ihre Spitze een Mann
mit sonne lange Beene marschiert wie Niko-
lajewitsch'n seine, For solche Beene jibt et
ieberhaupt keene Entfernungen »ich mehr,
un ivenn det Aas lossockt un Du jloobst, er
is ebent in Kowno anjekommen, denn is er
schon aus Wilna ausjerissen. So leist er seine
Rejimenter mit juten Beispiel voran un de
Leite haben ihre Not, det se ihm Nachkommen
kennen. Aber et jeht ja, Jott sei dank, un det
russesche Heer hat sojar noch nebenbei Zeit
zu allerhand anderweitije Beschäftijnngeu im
Dienste von de hehere Kulturmission, die ihnen
de Engelländer ufsjetragen haben. Se sengen
un brennen de Heiser, de Wälder un de Felder
ab, vernichten alles Vieh mit Ausnahme von
de Läuse un zersteeren de Erntevorräte. Un
>vat de russesche Zivilbevelkerung is, die treiben
se vor sich her, damit, wenn se mal trotz alle
Jeschivindigkeit doch noch sollten uff'n Feind
stoßen, erst diese Leite dotjeschossen werden, an
die ja »ich so ville dran is ivie an de russesche»
Soldaten, die schon sachteken anfangen eenen
besonderen Seltenheitswert zu bekommen.
Aber de Jeschwindigkeit hat ooch manchmal
ihre Schattenseiten. Det konnte man neilich in
Moskau sehen, als dort de freidije Nachricht
von de Eroberung der Dardanellen eintraf un
de Siejesfeier so jeschwind veranstaltet wurde,
det der Jubel sich bereits in vollem Jange be-
fand, ivie se heerten, det allens jelogen war.
Det Erjebnis von de Entteischung war natier-
lich eene alljemeene Holzerei, bei die ooch leider
zahlreiche Pollezisten sollen zu schweren Schaden
jekommen sind. Aber immerhin war de Mosko-
witer det vorieberjehende Verjniejen zu jönneu,
indem det ick sonne finstere Ahnung habe, als
wenn dies det eenzigste Siejesfest jewesen is,
wat de Russen noch zu feiern Jelejenheit haben
werden.
Womit ick verbleibe mit ville Jrieße Dein
jetreier Jotthilf Rauke,
an 'n Jörlitzer Bahnhof jleich links.
Redaktionsschluß o. September 1915.
Kund um die erde.
„Woeste, Karl, die Sache jefüllt mir »ich; wenn die Kerls so weiter-
loofen, kommen se schließlich von die andere Seite nach Berlin!"
<5^ ftoüelfpäne. eT
Menschheit, hüll' dich in trauernde Flore,
Schaudernd mehre dem jubelnden Chore,
Der dir frohlockend „Siege" verkündet.
Jahrtausende lang schon wütet der Kampf,
Jahrtausende lang schon steiget der Dampf
Blutiger Opfer hoch in die Lüste.
Sage, Menschheit, wann wirst du genesen?
Sage, wann wird erleichtert man lesen:
Ewiger Friede bindet die Erde?
Noch fallen Opfer im heftigen Streit,
Noch werden Flüsse vom Blute breit.
Noch glüht kein Frührot des werdenden Tags.
Wann wird das Gottergeschenk, das Denken,
Den Menschen endlich die Schritte lenken?
Wann wird der Opfer genug sein im Krieg?
Auf dem bei Abschluß des Krieges in Aussicht zu nehmenden Friedens-
kongreß soll der erste Punkt der Tagesordnung lauten: Allgemeine
Zurücknahme der gegenseitig so reichlich ausgeteilten Titel: Lügner,
Schwindler, Erpresser, Giftmischer und Meuchelmörder.
König Viktor Emanuel hat beschlossen, bei weiterem ebenso günstigen
Fortgang der Operationen den Titel eines Großkaisers des Mittelmeers
anzunehmen.
Welche Enttäuschung! Statt des Sonnenscheins der Freiheit er-
halten die Völker Rußlands nur de» Kriwoschein des Kabinetts.
Ihr getreuer Säge, Schreiner und Landstürmer.
Der Zensor.
Wer ist der Stärkste im deutschen Land?
Der Zensor.
Der Sieges- und Parlamentsbericht,
Der Feldbrief, das Kriegslied entrinnet nicht
Dem Zensor.
Ein blasser Schreck saßt jung und alt
Vorm Zensor,
Kommt durch den Blätterwald gesaust.
Den Rotstift in der nervigen Faust
Der Zensor.
Besiegt wird jeder Feind, nur nicht
Der Zensor.
Ach Lindenburg, du Russenschreck,
Wann treibst du auch aus Deutschland weg
De» Zensor?
&Gs
Petersburger Depeschen.
Montag. Die Umgruppierung unserer Armee und
ihre Offensive steht bevor.—Die Wertgegenstände aus
Riga »nd Wilna werde» »ach Dnnaburg in Sicher-
heit gebracht.
Dienstag. Die Dentschc» gerieten in die Falle
von Brest-Litowsk. — Die Wertgegenstände werden
ans Diinaburg nach Petrograd in Sicherheit gebracht.
Mittwoch. Der Feind erlitt vor Olita einen Rcin-
sall: er hat seine Belagerungsgeschütze ganz zwecklos
in Aufstellung gebracht. — Die Wertgegenstände wer-
den ans Petrograd nach Moskau gebracht.
Donnerstag. Die Deutschen haben sich in die
Rokitnosümpfe locken lassen, ürra! — DicWcrtgegcn-
stände werden aus Moskau nach Nischni-Nolvgorod
in Sicherheit gebracht.
Freitag. Die Deutsche» finden den Rückweg nicht
mehr und gerate» aus Vcrzlvciflung immer lveiter
nach Oste». — Die Wertgegenstände werden aus
Nischni-Rowgorod nach Smolensk in Sicherheit ge-
bracht.
Sonnabend. Unsere Offensive n»d die Vernich-
tung der Deutschen steht unmittelbar bevor. — Die
Wertgegenstände werden ans Smolensk »ach Tomsk
in Sibirien i» Sicherheit gebracht.
Sonntag. Hindenburg nähert sich Petrograd,
wie es heißt, um sich zu ergebe». — Der Zar wird
nicht in Sicherheit gebracht, da er kein Wertgegen-
stand ist....
Lieber Jacob!
Wenn man sich dem Rickzug der russischen
Heldenscharen an de östliche Front bekiekt, denn
niuß man an de Wahrheit des Sprichivortes
irre werden: „Jeschwindigkeitis keeneHexerei!"
Diese Art von Jeschwindigkeit jrenzt jedenfalls
schon stark an die vierte Dimension, wat um
so merkivirdijer is, weil doch bet Janze ur-
sprünglich als Dampfwalze jedacht ivar, die
sich bekanntlich immer mit eene besondere jra-
vitätische Ruhe zu beivejen flegt. Aber seitdem
det der Betrieb nach de andere Richtung erst
mal in Schivung jekommen is, kennt er keen
Halten »ich mehr, un jeden jeschlagenen Tag
wird een neier Platz ausjereimt un weiter je-
zogen, un wenn dann de Deitschen hinkommen,
is schon nllens leer un se haben bloß noch det
Verjniejen, de Wohnung auszumisten. Etscheint,
als ob de janze russesche Armee ans lauter Rick-
kompagnien bestehen tut — so fein verstehen
de Brieder det Jeschäft. Allerdings kommt et
sie ja z>l statten, det an ihre Spitze een Mann
mit sonne lange Beene marschiert wie Niko-
lajewitsch'n seine, For solche Beene jibt et
ieberhaupt keene Entfernungen »ich mehr,
un ivenn det Aas lossockt un Du jloobst, er
is ebent in Kowno anjekommen, denn is er
schon aus Wilna ausjerissen. So leist er seine
Rejimenter mit juten Beispiel voran un de
Leite haben ihre Not, det se ihm Nachkommen
kennen. Aber et jeht ja, Jott sei dank, un det
russesche Heer hat sojar noch nebenbei Zeit
zu allerhand anderweitije Beschäftijnngeu im
Dienste von de hehere Kulturmission, die ihnen
de Engelländer ufsjetragen haben. Se sengen
un brennen de Heiser, de Wälder un de Felder
ab, vernichten alles Vieh mit Ausnahme von
de Läuse un zersteeren de Erntevorräte. Un
>vat de russesche Zivilbevelkerung is, die treiben
se vor sich her, damit, wenn se mal trotz alle
Jeschivindigkeit doch noch sollten uff'n Feind
stoßen, erst diese Leite dotjeschossen werden, an
die ja »ich so ville dran is ivie an de russesche»
Soldaten, die schon sachteken anfangen eenen
besonderen Seltenheitswert zu bekommen.
Aber de Jeschwindigkeit hat ooch manchmal
ihre Schattenseiten. Det konnte man neilich in
Moskau sehen, als dort de freidije Nachricht
von de Eroberung der Dardanellen eintraf un
de Siejesfeier so jeschwind veranstaltet wurde,
det der Jubel sich bereits in vollem Jange be-
fand, ivie se heerten, det allens jelogen war.
Det Erjebnis von de Entteischung war natier-
lich eene alljemeene Holzerei, bei die ooch leider
zahlreiche Pollezisten sollen zu schweren Schaden
jekommen sind. Aber immerhin war de Mosko-
witer det vorieberjehende Verjniejen zu jönneu,
indem det ick sonne finstere Ahnung habe, als
wenn dies det eenzigste Siejesfest jewesen is,
wat de Russen noch zu feiern Jelejenheit haben
werden.
Womit ick verbleibe mit ville Jrieße Dein
jetreier Jotthilf Rauke,
an 'n Jörlitzer Bahnhof jleich links.
Redaktionsschluß o. September 1915.