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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0250
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— 8806

James Keir Hardie.

Gestorben am 26. September 1915 in Glasgow.

Von den führenden Persönlichkeiten der sozialdemokratischen Be-
wegung Großbritanniens war James Keir Hardie eine der mar-
kantesten. An Jahren jünger als H. M. Hyndman, den seine Verehrer
den „Großen Alten" („Grand old Man“) des englische» Sozialismus
nennen, hatte Hardie in wesentlich höherem Grad? als dieser die Herzen
und das Ohr der Sozialisten seines Landes. Der untermittelgroße,
ans den ersten Blick unscheinbare Mann stand durch Herkunft und
Bildungsgang der großem Masse seiner Landsleute so nahe, daß sich
schon daraus seine außerordentliche persönliche Beliebtheit in den
Kreisen der für die sozialistischen Ideen gewonnenen Arbeiter erklärte.
Es kamen aber noch andere, geistige und seelische Eigenschaften Keir
Hardies hinzu, den großen Einfluß zu erklären, den er in der sozia-
listischen Welt Großbritanniens ausübte. Im Unterschied von dem ner-
vösen, ungeduldigen Hyndman zeich-
nete sich Keir Hardie im Äußeren und
Verhalten durch eine ganz ungewöhn-
liche innere Festigkeit aus, die aufjedeu,
der ihn kannte und sein Wirken ver-
folgte, einen tiefen Eindruck machte.

James Keir Hardie, der im Jahre
1856 in der schottischen Grafschaft
Lanarkshire geboren wurde, entstammte
dem Proletariat. Seine Eltern gehör-
ten der Arbeiterklasse an, und schon
als Knabe hat er in Kohlengruben für
den Erwerb arbeiten müssen. In dieser
Zeit stand es mit dem Kinderschutz in
England noch sehr traurig. Ans dem
gleichen Grunde hatte Hardie auch so
gut wie keinen Schulunterricht. Aber
er hatte einen starken Lerntrieb, und
der hat dem angehenden Bergmann
zu einem Wissen verholfen, das ihm
schon in jungen Jahren eine geachtete
Stellung unter seinen Kollegen ver-
schaffte.

Als Keir Hardie in dem Alter war,
wo rege Naturen anfangen, für das
öffentliche Leben sich 51t interessieren,
lag die politische Arbeiterbewegung
Englands entkräftet an> Boden. Der
Chartismus hatte ausgespielt und die
Internationale sich außerstande er.
wiesen, sein Erbe zu werden. Den Ar-
beitern, die überhaupt für politische
Reformen und sozialpolitische Schutzmaßregeln wirken wollten, blieb
daher nichts übrig, als mit einer der großen bürgerlichen Parteien
Fühlung zu halten, und für demokratisch gesinnte Arbeiter gab es
da nur die liberale Partei, deren schottischer Flügel ohnehin etwas
kräftiger gefärbt war als der Durchschnitt der Partei.

In Schottland hat stets ein starkes Unabhängigkeitsgefühl vor-
geherrscht. Die demokratischen Überlieferungen sind dort im Volke
sehr tief eingewurzelt und leben in vielen Volksgesängen, ganz be-
sonders in den Liedern des Dichters Robert Burns, von denen
Freiligrath uns eine Anzahl so ausgezeichnet verdeutscht hat, daß sie
uns wie deutschen Ursprungs erscheinen, die aber in der Sprache des
schottischen Barden doch noch viel kraftvoller lauten als in der Über-
setzung. Sie haben Hardies politisches Denken stark beeinflußt. „Robert
Burns sang ihn in die Demokratie hinein" heißt eS in einer bio-
graphischen Notiz über ihn. Und in der gleichen Biographie wird
noch ein ein zweiter Schotte genannt, der auf des jungen Hardies
Denken großen Einfluß ausgeübt hat: Thomas Carlyle, der Sozial-
ethiker. Neben der religiös-kirchlichen Erziehung, die Hardie im elter-
lichen Hause empfing, sind Carlyle und dessen englischer Geistesver-
wandter John Ruskin, den Hardie ebenfalls studiert hat, für den
puritanisch-ernsten Zug in dessen Wesen verantwortlich.

Vis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr arbeitete Keir Hardie
im Kohlenbergbau. Er beteiligte sich mit Eifer an gewerkschaftlichen

Bestrebungen und wurde im Jahre 1877 wegen seiner Organisations-
tätigkeit unter den Kollegen von den Unternehmern auf die schwarze
Liste gesetzt. Als Antwort darauf wählten ihn die Arbeiter zu ihrem
Sekretär, und von da ab hat Keir Hardi nicht mehr als Industrie-
arbeiter gearbeitet. Er hat aber nie aufgehört, i» engster Verbindung
mit der Klasse zu bleiben, in deren Interesse er ununterbrochen tätig
geblieben ist. Er siedelte zu jener Zeit nach Cnmnock in der Lanark-
shire benachbarten Grafschaft Ayrshire über. Dieser Ort, in dem er
seine sehr glückliche Ehe mit Lillie Collier schloß, ist auch sein ganzes
weiteres Leben hindurch sein Wohnort geblieben. Vom Jahre 1882
bis 1886 sehen wir ihn als zweiten Redakteur einer Cumnocker Lokal-
zeitung tätig, in welche Zeit sein Anschluß an die damals neu er-
stehende sozialistische Beivegung Englands entfällt.

Zuerst hatten ihn die Ideen des
Boden- und Sleucrreformers Henry
George ergriffen, die zu Anfang der
achtziger Jahre des abgelaufenen
Jahrhunderts in den demokratischen
Kreisen Englands mit großem Erfolg
propagi rt wurden. Sie bedeuteten
noch keinen Bruch mit der liberalen
Partei, da das englische Parteiwesen
sehr weitgehende politische und sozial-
politische Meinungsverschiedenheiten
in einer und derselben Partei verträgt.
Aber die Bekennerschaft zu diese»
Ideen war für Hardie nur eine Durch-
gangsstnfe zum Sozialismus. Nahm
man die antikapitalistische Sprache
Georges ernst, so mußte man bald
dahinter kommen, daß dessen praktisches
Programm für die Beseitigung des
Kapitalismus nicht ausreicht, und daß
sei» Plan der einzigen Bodenwertsteuer
obendrein auf dem Boden dieser Ge-
sellschaft undurchführbar war. Das
leuchtete auch Keir Hardie ein. Er ließ
sich willig zum Sozialismus bekehren
und trat mit besonderer Wärme für
die damals von Sozialisten Englands
propagierte Forderung des gesetzlichen
Achtstundentags ein. Im Interesse der
Zusammenfassung der Arbeitskräfte
für diese Forderung organisierte er die
Bergarbeiter Ayrshires in einen Berg-
arbeiterbund, dessen Präsident er wurde, wies aber ein ihm angebo-
tenes Gehalt ab. Im Jahre 1887 sehen wir ihn zum ersten Male auf
einem allgemeinen Gewerkschaftskongreß Englands, dem Kongreß von
Swansea, wo er fast allein gegen den zu jener Zeit noch in Gewerk-
schaftskreisen Englands allgewaltigen Henry Broadhurst ankämpfte,
der ein großer Gegner der sozialistischen Bewegung war. Er gründete
ein Blatt „The Miner“ (Der Bergarbeiter), das unter den Bergarbei-
tern für die Idee» des Sozialismus warb, und trat im April 1883
bei einer Parlamentsnachwahl im Wahlkreis Midlanark als unab-
hängiger Arbeiterkandidat gegen beide bürgerlichen Parteien ans, ein
großes Wagnis, das nur eine bescheidene Stimmenzahl bringen konnte,
aber immerhin nicht ganz erfolglos blieb.

lim die damalige Zeit war die neue sozialistische Bewegung Eng-
lands nach einem ersten hoffnungsvollen Aufschwung infolge von
persönliche» Konflikten, theoretischen und taktischen Differenzen in
arge Zerrüttung geraten. 1884 schon hatte sie sich in zwei Fraktionen
gespalten; nun fand auch die Ablösung ganzer Mitgliedschaften von
den Fraktionen statt, und der Mitgliederrückgang war allgemein. Um
wenigstens in Schottland die sozialistischen Kräfte zusammenznhalte»,
gründete Keir Hardie mit Gleichgesinnten eine neue Verbindung, die
sich schottische Arbeiterpartei nannte, und gab für sie ein Monats-
blatt unter dem Titel „The Labour Leader“ (Der Arbeiterführer)
heraus, das er später in ein Wochenblatt umwandelte, als welches
 
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