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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 32.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.8259#0251
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8807

es in vergrößertem Umfang heute noch besteht und das verbreitetste
Zentralorgan des britischen Sozialismus ist. Hardie stand in der ge-
schilderten Epoche ziemlich stark unter dem Einfluß des begabten
Sozialisten H. H. Champion, ohne jedoch diesem etwas abenteuer-
lichen Politiker in jeder Hinsicht zu folgen. Er unterhielt ferner auch
gute Beziehungen zu Eleanor Marx und deren Mann, und als 1889
die zwei rivalisierenden internationalen Sozialistenkongresse in Paris
tagten, gehörte Hardie zu den Delegierten des Kongresses der Marxisten.
Bei den Parlamentswahlen von 1892 trat er in einem Arbeitervorort
des östlichen London South Westhain — als Kandidat auf, und
zivar wiederum gegen beide bürgerlichen Parteien. Wohlhabende Partei-
freunde, die sein Talent erkannt hatten und seinen Charakter hoch-
schätzten, hatten die nicht unerheblichen Kosten für seine Kandidatur
aufgebracht. Und nicht umsonst. In der Erkenntnis, daü der Wahl-
kreis für sie verloren sei, gaben die Liberalen im letzte» Moment den
Kampf auf, und Hardie zog als der erste britische Arbeitervertreter,
der im entschiedenen Gegensatz gegen beide biirgerlichen Parteien ge-
wählt worden war, ins Haus der Gemeinen ein.

Hier nahm er ans der Seite der Opposition Platz, das heißt neben
den Konservative», die durch die Wahle» von 1892 in die Minder-
heit gekommen waren. Im Gegensatz zu John Burns, bis dahin sein
Kampfgenosse, der auf der Seite der Liberalen Platz genommen hatte,
vertrat er die Ansicht, daß der Sozialist unter allen Umständen der
Regierung und der bürgerlichen Mehrheit des Tages Opposition
machen müsse, und gab dadurch zeitweilig der Verdächtigung Raum,
daß er unter der Hand mit den Konservativen spiele. Indes war
diesen der Nachbar keineswegs geheuer. Hardie trat mit großer Kühn-
heit im Parlament auf und brachte es wiederholt durch Nichtachtung
der geheiligten Traditionen des Hauses in Aufruhr. So unter an-
derem im Jahre 1894 durch schroffe Bekämpfung des Antrags, dem
damaligen Prinzen von Wales (später Eduard VII.) aus Anlaß der
Geburt von dessen erstem Enkel in der männlichen Linie zu beglück-
wünschen. Zu seiner ganz besonderen Aufgabe machte er es sich, die
Forderung der Arbeitslosenunterstützung, der gesetzlichen Festlegung
von Mindestlöhnen und des Achtstundengesetzes bei jedem Anlaß mit
dem größten Nachdruck zu verfechten. Nichtsdestoweniger siel, als 1895
die liberale Regierung gestürzt ward und Neuwahlen stattfanden,
auch er der Reaktionswelle jenes Jahres zum Opfer. Obwohl, oder
vielmehr gerade weil ihm die Liberalen keinen Kandidaten entgegen-
gestellt hatten unterlag er gegen den Konservativen.*

Mittlerweile war im Januar 1893 in Bradford auf einem all-
gemeinen Arbeiterkongreß, dem Hardie präsidierte, die Independent
LabourParty (UnabhängigeArbeiterpartei) Großbritanniens gegründet
worden. Ihr Programm war ein durchaus sozialistisches und ihre
Politik stand im Einklang mit ihrem Name». Ohne in Opportunismus
zu verfallen, verstand sie es, praktische Arbeiterpolitik zu treiben,
indem sie sich, da ihr ein Wirken im Parlament noch nicht möglich
war, namentlich auf die Vertretung der Arbeiterinteressen in den
Gemeinden, den Armenausschüssen, Schulämtern usw. verlegte. So
wuchs sie der älteren Sozialdemokratischen Föderation über den Kopf
und arbeitete wirksam für das Zustandekommen der großen Partei
der Arbeiterklasse, die seit 1906 als Labour Party die sozialistischen

* Da in England die relative Mehrheit entscheidet, hätte die Ausstellung eines
liberalen Kandidaten zur Spaltung der bürgerlichen Stimmen geführt und dadurch
Hardtes Wahl ermöglicht.

Organisationen und die Gewerkschaften Englands zllr gemeinsamen
Aktion vereinte. In der Independent Labour Party aber war Keir
Hardie die ganzen Jahre ihres Emporarbeiteils als Vorsitzender ihres
Vollziehungsausschusses und Herausgeber des „Labour Leader“ die
Seele der Bewegung. Bei den Wahlen des Jahres 1900 ward er in
einem Bergarbeiterbezirk des südlichen Wales, Merthyr Tyrfil, ins
Parlament entsandt und ist dort bei jeder kommenden Wahl mit
großer Mehrheit wiedergewählt worden. Zunächst ,var er eine Reihe
von Jahren wieder der einzige, in jeder Hinsicht unabhängige Sprecher
der Arbeiter^ache im britischen Parlament. Aber die Wahlen von
1906 brachten ihm eine Anzahl Kampfgenossen in das Haus der Ge-
meinen, und mit ihnen teilte er von da ab die Pflichten und die
Lorbeeren des Kampfes.

Keir Hardie war im Parlament wie in der Volksversammlung ein
sehr wirksamer Redner. Er hatte ein wohlklingendes Organ und einen
eindrucksvollen Vortrag, verfügte über solide Kenntnisse und einen
Reichtum an packenden Bildern. Auch als Schriftsteller hat er Tüch-
tiges geleistet. Ich habe glänzende Artikel aus seiner Feder gelesen,
und wiederholt deren poetischen Schwung bewundert. Gar manchem
seiner Aufsätze merkt man es an, daß Keir Hardie durch die Schule
der Carlyle und Ruskin gegangen war. Festländische Sozialisten, die
sich an Marx und Engels gebildet haben, mag daher die Schreib-
weise Hardies zuweilen seltsam' angemutet haben. Aber Hardie hat
sich in späteren Jahren auch mit den Lehren von Karl Marx genauer
vertraut gemacht und deren Grundgedanken gut begriffen.

Mit Leib und Seele war er Internationalist. In seiner Partei
gehörte er deren linken Flügel an, ohne jedoch die Gegnerschaft gegen
den Opportunismus zur Begünstigung von impossibilistischen Experi-
menten auswachse» zu lassen. Den Anträgen der Heißsporne der
Independent Labour Party, aus der ihnen nicht radikal genug anf-
tretenden Labour Party wieder auszuscheiden, ist er stets mit großer
Entschiedenheit entgegengetreten. Was er für gut und entwicklungs-
fähig erkannt hatte, daran hielt er mit unerschütterlicher Treue fest.
Nicht immer habe ich seine Auffassung in bezug auf die Anforderungen
der politischen Lage teilen können, aber bei allen großen Entschei-
dungen habe ich ihn stets von Neuem als einen der zuverlässigsten,
unerschrockensten Verfechter der großen Prinzipien der Internationale
der Arbeiter hochschätzen gelernt, einen Kämpfer von felsenfester Gesin-
nungsstärke. Als solcher hat er sich auch in diesem Krieg bewährt. Vielen
ein Muster, hat er mit seinen Freunden Bruce Glasier, I. R.Mncdonald,
Ph. Snowden und anderen vor allem die Politik des eigenen Landes
der schärfsten Kritik unterworfen. Dem nicht mehr von ihm selbst, aber
noch durchaus in seinem Sinn redigierten „Labour Leader“ schrieb
Keir Hardie zu Neujahr 1915 vom Krankenzimmer aus folgenden Gruß:

„Der ,Labour Leader“ ist heute vielen eine kraftvolle Ergänzung
des Evangeliums. Er gibt vielen, die ohne sein Licht im Dunkeln
der herrschenden blutbefleckten Finsternis tasten würden, Kraft und
Begeisterung. Ihm werde größere Macht! Meinen Neujahrsgruß seinen
Lesern und allen, die für den baldigen Sturz von Mammon und
Moloch, den Zwillichs-Unterdrückern unseres Geschlechts kämpfen."

Man darf es kühn sagen: was August Bebel der deutschen
Sozialdemokratie gewesen ist, das war Keir Hardie der aufstreben-
den sozialistischen Bewegung Englands. Und wie Bebel hat er immer
wieder Beweise der Liebe und Anhänglichkeit seiner Partei erfahren,
wie sie keinem zweiten zuteil geworden sind. E. B.
 
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