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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 33.1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.6705#0023
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8896 - -

Zeitgemäß.

„Himmelherrgottsalramcnt, da läuft mir beim Malen das Wasser
im Maul zusammen!"

-o-

ben: „Stuf dem Feld der Ehre
gefallen!"

Ein namenloser Schreck befiel sie.

Ihr Mann gefallen — tot! Eiskalt
kroch es herauf in ihr und blieb am
Herzen haften. Lange, lange starrte
sie fiebernden Auges auf den Un-
glücksbrief und sah ihn doch nicht
mehr! Nur wie aus weiter Ferne
hörte sie den alten, gutmütigen
Briefträger noch milde, freundliche
Worte des Trostes sprechen, die sie
nicht erreichten. Längst mußte er
ivieder fort sein, und noch immer
stand das Weib mit dem Briefe am
offenen Fenster, durch das die kalte
Zugluft ungehindert hereindrang.

Erst das laute Aufschreien ihres
Buben rief die Mutter in die Ge-
geuwart zurück. Fröstelnd schloß sie
das Fenster, wankte zu dem weinen-
den Knaben hin unb beschwichtigte
ihn, bis ihm die Äuglein ivieder zu-
fielen. Danach kniete sie vor seinem
Bettchen nieder, und die barmherzi-
gen Tränen flössen erst spärlich, dann
stärker über ihre Wangen herab.

Langsam begann sie zu denken.

Ach Gott, der arme Bub hatte jetzt
keinen Vater mehr! Und sie war mit
ihm allein! Doch nein, da waren
ja noch die betagten Schwiegereltern:
denen mußte sie die Trauerbotschaft
gleich überbringen! Wie schwer wird
es die guten Leute treffen, die so sehr an
ihrem einzigen Sahne hingen!

Sie erhob sich, trocknete das tränenfeuchte
Gesicht mit der Schürze ab und warf mög-
lichst geräuschlos einige Holzscheite in den
Ofen. Das Kind schlief fest, und sie konnte es
schon auf einige Minuten allein lassen. Sie
nahm den unglückseligen Brief zu sich und
ging, die Türe leise zumachend, hinaus. Drau-
ßen schloß sie das Haus, schob den Schlüssel
nach alter Gewohnheit in die untere Türspalte
und eilte, deS Schneegestöbers nicht achtend,
rasch die menschenleere Straße hinab, hinein
ins Häuschen der Eltern.

Der ergraute Vater kauerte am überheizten
Kachelofen in feinem Sorgenstuhl und sog an
der Tabakpfeife; er ivollte gar nicht mehr ivarm
iverden. Das Mütterlein hockte, die Brille auf
der Nase, am Tisch und las mit verkrümmten
Fingern die Linsen für das morgige Mittag-
essen. Als die Schwiegertochter unvermutet und
erregt, die Tränenspuren noch im Gesicht,
vor ihnen stand, blickten sich die beiden Alte»,
instinktiv ein Unheil ahnend, einen Moment
hilflos an; blitzartig aber liefen ihre Gedanken
in der gleichen Richtung.

„Marie, ischt dir ebbes passiert? Komm,
setz de! Hot am End dr Friedrich gschriebe?"
Ängstlich und unsicher fragte es die Schwieger-
mutter. Statt der Antwort ein herzzerbre-
chendes Schluchzen des jungen Weibes, das
kein Wort fand und sich hilflos auf den näch-
sten Stuhl sinken ließ. Da kam das Mütter-
lein herzu, legte ihren Arm sanft um den Hals
der Schiviegerlochter und nahm ihr den Brief
aus der Hand. Kurzsichtig, ivie sie war, brauchte
sie eine geraume Weile, um alles zu lesen.

„Allmächtiger Gott!" sagte sie tonlos.

Dann wurde es schivarz vor ihren Augen,
und sie mußte sich setzen. Vom Sorgenstuhl
her ertönte ein lautes Poltern; dem Manne
>var die Pfeife entglitten, in Scherben zer-
brochen lag der Porzellankopf am Boden.

Einige Minuten blieb es mäuschenstille.
Selbst das junge Weib hatte zu schluchzen
aufgehört, überwältigt von dem stummen und
klaglosen Jammer der alten Eltern. Die Mut-
ter saß, die welken Hände wie zum Gebet auf
dem Schoße gefaltet und stierte mit glanzlosen
Augen ins Leere. Unsichtbar schritt der Allein-
herrscher Tod durch die Stube. Und die hart-
betroffenen drei Menschen horchten leidvoll
und weltentrückt am dunklen Tore der Ewig-
keit, durch das der Gefallene eingegangen war.

Ein schivaches Hüsteln unterbrach die bange
Stille. Der Vater erhob sich müde von seinem
Sessel und tat einige Schritte in die Stube
hinein. „Unser Herrgott hot's so ivölle! Dr
Friedrich ischt gschtorbe fürs Vaterland —
ond mir müsset's ebe trage!"

Halblaut und stockend, durchzittert vom
eigenen Weh, kam es von den Lippen des
alten Mannes. Einen Augenblick legte er seine
Rechte sacht auf die Schulter seines Weibes;
dann wendete er sich an die Schiviegerlochter:
„Marie, du därfscht net verzweifle! Mir drei
wöllet fescht z'sammehalte en Zukonft! Ond
dein Buebe hoscht jo au no!"

Das junge Weib drückte ihm dankbar die
Hand und stand auf. Ja, ihr Kind! Es war
allein, und sie durfte mit dem Heimgang nicht
länger säumen!

„Mir ganget mit dir!" Meinte das Mütter-
lein. „Gelt, Vatter?" Der Mann nickte, und be-
drückt stapften sie die beschneite Gasse hinab.
An ihrem Häuschen angekommen, suchte die

Schiviegerlochter de» Schlüssel ver-
geblich an seinem Platze, und als sie
klinkte, fand sie die Türe zu ihrer
Bestürzung aufgeschlossen. Wie kam
das nur? Sie glaubte bestimmt, den
Schlüssel umgedreht und ihn dann
unter die Türe gelegt zu haben!
Oder hatte sie das in der Aufregung
vielleicht doch vergessen?

Im Hausgang drinnen hörte sie
das helle Lachen des Kindes. Es
mußte also bereits wach geworden
sein. Als das junge Weib die Stuben-
türe öffnete, blieb es einen Moment
ivie angewurzelt auf der Schwelle
stehen. Ein Zittern lief durch ihren
Körper. Narrte sie jetzt ihr Gehirn,
oder war es Wirklichkeit? Dort am
Ofen saß ein bärtiger feldgrauer
Soldat, den linken Arm in der Binde,
mit dem andern ihren Buben um-
schlungen haltend, der auf seinem
Schoße schaukelte und vergnügt
schwatzte.

O, es war ein Wunder — das Grab
gab seine Toten wieder! Trotz seines
wilden Vollbarts erkannte sie ihn!

„Friedrich!" llngemessener Jubel
drängte sich in den Ruf des Weibes.
Versunken war der vorangegangene
herbe Schmerz.

„Marie!" antwortete der Mann
ergriffen. Mehr konnte auch er nicht
sagen. Dann hielt er sie mit dem ge-
sunden Arm fest umfangen! Hernach kamen die
überraschten Eltern dran, die den totgeglaubtcn
Sohn ebenfalls in Beschlag nahmen. Später, als
man sich beruhigt hatte, mußte er erzählen.

Gelegentlich eines heftigen Vorstoßes der
Franzosen war er vor zehn Tagen durch eine»
Gewehrschuß am linken Arm verwundet wor-
den, kam dann zuerst ins Feldlazarett und von
da mit dem nächsten Sanitätstransport nach
Stuttgart. Hatte er bisher, im Drange der
Ereignisse, keine rechte Gelegenheit zu einer
Mitteilung gesunden, so unterließ er das
Schreiben jetzt absichtlich und gedachte die
Seinen zu überraschen. Von dem zurückgekom-
menen Brief seines Weibes, wußte er nichts.
Offenbar lag ein Irrtum des Feldwebels vor,
der ihn für gefallen hielt, weil er nach dem
Gefecht in der Kompagnie fehlte. Solche Fälle
passierten im Kriege oftmals.

Da die Heilung der Fleischivunde gute Fort-
schritte machte, erhielt er im Stuttgarter La-
zarett zum Besuch seiner Familie heute zwei
Tage Urlaub bewilligt und fuhr nun gleich
mit dem nächsten Zug bis zur nächsten Bahn-
station. 2luf der Straße hierher traf er ein
Bierfuhrwerk, das ihn bis ins Dorf brachte.
Sein Haus geschlossen vorfindend, nahm er
von dem wohlbekannten Platze den Schlüssel
und öffnete. Erst ganz kurz ivar er da.

Begierig horchten die Alten auf die Worte
des verwundeten Sohnes, während das glück-
lich lächelnde junge Weib sich geschäftig rührte,
um dem gewiß recht ausgehungerten Manne
einen warmen Imbiß zu bereiten. Alles in ihr
war strahlende Sonne, blühender Frühling.
Und draußen lag doch der kalte Winterschnee,
brüllten weitab von hier die Geschütze, schlu
gen die Heere blutige Schlachten!
 
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