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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 33.1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.6705#0239
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9112

Lob des Zensors.

Eine Romanze.

Leut will ich ein Liedchen singen
Einem hohen Lerrn zum Preise,

Der unnahbar und gewaltig
Über allen Welten thronet.

Wahrlich, groß und unerreichbar
Thront er in olymp'schen Löhen,

And regiert von dort das leichte
Lose Volk der Zeitungsschreiber.

Brauch' ich, Leser, noch zu sagen.
Wessen Lob mein Lied verkündet?
Nein, du hast es selbst erraten:

Dies kann nur der Zensor sein!

La, ich sehe dich erbleichen
Ob der unerhörten Kühnheit,

Daß mein Iournalistenauge

Frech selbst nach dem Löchsten blinzelt.

Denn du glaubst, daß ich mich wollte
Rächen für erlitt'ne Anbill —

Für gestrichene Poöme —

Aber du bist schief gewickelt.

Frei von Laß und frei von Rachsucht
And von ähnlichen Gefühlen
Soll mein sittsam Lied erschallen.

Nur von brünst'gem Dank durchzittert.

Früher schlichen wir durchs Leben
Wie ein Dieb von Sünd' zu Sünde,
Stets die bange Frage wälzend:

Weh, wie wird dir's morgen gehen?

Ging das Blatt den Weg zur Presse,
Wollten wir des Werks uns freue».
Daß die Arbeit abgeschlossen:

Zog's uns fröstelnd durch die Glieder.

Waren wir auch brav geblieben?
Ansere Lände rein von Sünde?

Oder hatten wir gerüttelt
An dem Leiligsten der Menschheit?

Doch so tief wir uns durchforschten,
Unser Teil blieb Angewißheit
And bei jedem harten Schritte
Fuhren wir erschreckt zusammen.

Das war unser Leben: Zwischen
Redaktion und Einzelzelle,

Zwischen Waldpicknick und Rumfutsch
Spielten unseres Daseins Kreise.

Wie ganz anders ist das heute!

Was wir fabulieren, schreiben, —

O, cs kann uns nichts geschehen.

Der Lerr Zensor bringt die Rettung!

Was er freigibt, ist geläutert.
Keiner kann uns drum verklagen;
Der Verantwortung entledigt
Lassen wir es in die Welt gehn.

Ja, das ist ein lustig Leben.

Frohen, unbedrückten Sinnes
Gehn wir wie ein Gott uns führet,

Preis und Lob und Dank im Lerzen. —>g.

o

Adolf von (Elm.-

3n flöolf von (Elm, der am 18. September in Hamburg
an einem Herzschlag starb, hat die deutsche Arbeiterbewegung
einen ihrer rührigsten Vorkämpfer verloren. Lim wurde am
24. September 1857 in Wandsbeck geboren und erlernte nach
dem Besuch der Bürgerschule den Zigarrensortiererberuf, in
dem er sogleich für die Interessen der Arbeiterschaft tätig
war. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Amerika wurde
er Geschäftsführer des Vereins der Zigarrensortierer und
hatte das Hauptverdienst am Zusammenschluß der beiden
damals bestehenden Berufsorganisationen zum gemeinsamen
Tabakarbeiterverband. Seine große Tatkraft und Willens-
stärke erwies er im Tabakarbeiterstreik von 1890 bis 1891
und bei der 1892 erfolgten Gründung der Tabakarbeiter-
genossenschaft. die im Jahre 1910 von der Großeinkaufgesell-
schaft deutscher Konsumvereine übernommen wurde, von
dieser Gründung ab betätigte er sich immer eifriger an der
Genossenschaftsbewegung, deren nationaler und internatio-
naler Ausbau in weitem Umfang sein persönliches Verdienst
war. Im besonderen zeigte er seine schöpferischen Fähigkeiten
bei der Gründung der Genossenschaft „Produktion" in Ham-
burg im Jahre 1898 und der anfangs von den Gegnern der
Arbeiterschaft so stark befehdeten „Volksfürsorge" im Jahre
1912. Aber auch der politischen Bewegung hat er stets eifrig
gedient, von 1894 bis 1906 vertrat er im Reichstag den
Wahlkreis Llmshorn-Pinneberg. Sein rastloses wirken für
die Sache der Arbeiterschaft und insbesondere für die Durch-
führung des Genossenschaftsgedankens auf allen Gebieten
wird ihm ein dankbares Andenken in der deutschen Arbeiter-
bewegung sichern.

Jm Land der Freiheit.

Skizze aus dem Londoner Getto.

„Wo nur Vater heute bleibt?"

Die siebenjährige Sara tritt wieder vor
das Haus und blickt die Straße hinab, von
wo der Vater komnien niuß.

Die Straße ist leer. Von dem üblichen Wirr-
ivarr, von dem bunten Durcheinander ist heute
nichts zu merken. Wie ausgestorbeu liegen die
alten Mietkasernen da. Man hört fast das
beständige Abbröckeln des Kalks an den Mauern.
Ein paar Kinder, die mit Steinchen spiele»,
flüstern scheu miteinander.

Was ist geschehen? Sara blickt erstaunt um
sich. Jetzt fühlt auch sie sich durch die un-
gewohnte Stille eiugeschüchtert.

Drei englische Soldaten biegen um die Ecke.
Der süße Geruch aus ihren Tabakspfeifen
streift Sara. Sie hört die Worte des einen:
„Goddam, warum sollen die Juden nicht auch
für ihren Zaren kämpfen?"

Die Juden für den Zaren? Sie begreift
nicht ganz den Sinn der Worte. Sie weiß
aber aus den Erzählungen der Eltern und
des alten, gelähmten Großvaters, daß sie
wie viele Tausende ihrer Nachbarn vor dem
Zaren hier nach London geflüchtet sind. Und
nun?

Angsterfüllt eilt sie ins Haus zurück.

Die Mutter hat die Suppe auf den Tisch
gestellt und hilft dem alten Großvater beim
Essen.

„Vater kommt noch immer nicht," stammelt
sie. Da schlägt die Mutter beide Hände vor
das Gesicht. „Mutter, du weinst ja?" Sara
sieht die Tränen durch Mutters Finger laufen.

Der Großvater hört auf zu essen. „Wir sind
das Volk, das nicht zur Ruhe kommt," mur-
melt er dumpf. „Nicht im russischen Heimat-
land, nicht hier im Land der Freiheit, das
uns einst gastlich aufnahm."

Vor seinem geistigen Auge ziehen die Mär-
tyrertage vorbei, die ihn und seine Glaubens-
brüder vor Jahren aus Rußland vertrieben
haben.

Er sieht Kischiuew vor sich mit seinen drei-
zehnhundert zerstörten, geplünderten, halbver-
brannten Häusern, mit den Hunderten, die zu
Krüppeln geschlagen und gefoltert sind, mit
den Dutzenden von Ermordeten, mit den tau-
send dem Hungertod preisgegebeuen Familien.
Er sieht sich selber unter Knutenhieben zu-
sammenbrechen. . . .

Er sieht auch Bialystok im Juni 1906. Der
den Juden freundlich gesinnte Polizeimeister
starb von unbekannter Hand. Daraus entstand
der Pogrom. Er sieht die mißhandelten, ge-
schändeten Frauen und Mädchen, die verstüm-
melten Körper der bestialisch Geschlachteten.
Der Alte stöhnt vor Grauen. . . .

Es klopft.

Der Briefträger bringt einen Brief. Die
Mutter liest ihn, bis sie am Ende nicht weiter
kann und ihn fallen läßt.

Ihr Mann ist auf Befehl der englischen
Regierung mit zweitausend seiner Volks- und
Glaubensgenossen zu Schiff nach Archangelsk
gebracht worden, um im Heere des Zaren zu
dienen.

Die Drohung der vergangenen Woche hat
sich also erfüllt. Sie weiß, sie wird ihn nie
wieder sehen: der Zar und seine Schergen
werden dafür sorgen.

Sara kniet, den Alten umklammernd.
„Sagtest du nicht, daß wir hier im Land der
Freiheit sind, Großvater? Wie können sie dann
unfern Vater verschicken?"

Der Alte streicht über ihr Haar. „Ich irrte
mich, mein Kind. Ich und deine Mutter sahen
das Land der Freiheit nie. Aber du wirst es
einst sehen!"

Und es klingt ergreifend wie das Wort eines
Propheten.
 
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