—. 9133 .
Jetzt mußte er die Übung vor dem Barreu
machen, doch immer noch i» Reichweite der
Stangen für den Fall, daß er kippen sollte.
Auch das ging, wenn auch mit saurem Schweiß.
„So, und nun probieren Sie es einmal ganz
frei. Nur langsam, hübsch langsam! Und immer
aus der Hüfte gehen, Herr Tüchsen!"
Wohl zehnmal ließ der Orthopäde den In-
validen im Zimmer ans und ab gehen. Dann
rückte er ihm den Stuhl hin, und während
sich Tüchsen erschöpft niederließ, prüfte der
Orthopäde die Span-
nung der Riemen und
die Geschmeidigkeit der
Gelenke an der Prothese.
„Alles in Ordnung!
Trauen Sie sich de» Weg
nun bis zur Haltestelle
zu, oder soll ich Ihnen
jemand zur Begleitung
mitgeben?"
Tüchsen schüttelte ver-
neinend den Kopf, gab
dein freundlichen Mann
dankbar die Hand und
verließ langsam, Schritt
vor Schritt setzend, die
Anstalt.
Es war doch zu merk-
würdig. Da hatte er nun
einen künstlichen Fuß,
und er spürte doch ganz
deutlich das Knie, die
Fußsohle, die Zehen,
alles Dinge, die seit elf
Monaten Gott weiß wo
vermodern.
Das leise Knirschen
der Riemen, dann und
wann einfeinesKnacken
von Metallteilen ge-
mahnte ihn inimer wie-
der an die Wirklichkeit.
Nun würden sie ihn
ja bald daheim sehen,
Antje, seine Frau, und
der kleine Klaus, sein
wilder, kleiner Junge,
den> er kurz vor dem
Krieg noch das Laufen
gelehrt hatte.
Wie wird Klaus heute
laufen? Besser als sein
Vater, denn bei ihm
geht es auf zwei echten,
gesunden Beinen. . . .
Heiß stieg es bei diesem Gedanke» in der
Brust Tüchsens auf, und ehe er es noch hin-
dern konnte, rann es glühend aus den weit
offenen, starr geradeaus gerichteten Augen.
Das war die erste und die letzte Träne, die
Musketier Tüchsen seinem verlorenen Bein
nachweinte. Als er bei der Haltestelle ankam,
zeigte er ivieder das gewohnte harte Gesicht
eines vom Leben geschmiedeten Mannes.
Das Versehen.
Briand wollte wieder einmal in der fran-
zösischen Kammer eine Rede halten und dabei
auch nähere Angaben über die französisch-
englischen Erfolge an der Westfront machen.
Er ließ sich, um der Kammer nur beglaubigte
Tatsachen mitteilen zu können, jemand aus
dem Generalstab kommen, der ihm Informa-
tionen geben sollte.
„Wir haben", begann der Herr, „noch ein
Heer von 4925391 Mann."
„Eine stattliche Zahl!" rief Briand erfreut,
aus. „Solche Zahlen höre ich gern."
„Davon sind in den Krankenhäusern, Gene-
sungs- und Krüppelheimen 1567203 Mann."
„So viel?" fragte Briand erstaunt.
„Briand ries: „Wollen Sie mich zu Tode
langweilen? Zahlen, nichts als Zahlen! Die
behalte ich doch nicht!"
„Sie wollten doch Informationen!"
„Natürlich! Doch so viel Zahlen sind mir
zuwider, verstehen Sie?"
„Ich verstehe vollkommen," erividerte der
Herr aus dem Generalstab. „Doch ich bin gleich
fertig. 300 Quadratkilometer haben wir zurück-
erobert und dabei 800000 Mann geopfert. 3000
Quadratkilometer würden uns also 8 Mil-
lionen und 30000 Qua-
Französische Karikaturen aus dem Kriege 1870/71.
Die Geschichte des zweiten Kaiserreichs. Bon Houorö Daumier.
„Ich gebe die genaue Zahl an. Seit Beginn
des Krieges haben wir übrigens an Toten und
Verwundeten 3976453 Soldaten verloren."
„Das interessiert mich nicht!" erklärte Brirnd
verstimmt und rückte nervös im Klubsessel hin
und her.
„Die Feinde haben noch immer 50000 Qua-
dratkilometer französischen Bodens besetzt."
„Leider!" warf Briand ein und gähnte.
„Wir haben bereits etwas zurückerobert."
„Etivas?"
„Es können 300 Quadratkilometer sein. Die
genaue Messung liegt noch nicht vor."
„Die brauche ich nicht," entgegnete Briand.
„Schön! Wir haben dabei 800000 Man»
verloren, allein an Toten 400000."
dratkilometer 80 Mil-'
Honen Mann kosten. Da
die gesamte Bevölke-
rung Frankreichs ein-
schließlich Frauen, Kin-
dern und Greisen sich
auf 40 Millionen be-
ziffert, so müßte auch
England seine gesamte
Bevölkerung zur Ver-
füg un g stellen, und w enn
beide Lander ihr ganzes
Menschenmaterial ge-
opfert hätten, so würde
der Feind Voraussicht-^
lich immer noch 20000
Quadratkilometer un-
seres Landes in Händen
haben."
Jetzt sprang Briand
zitternd vor Wut auf:
„Was erlaubenSie sich?
Ich finde Ihr Verhalten
empörend und werde
Joffre gleich meine Mei-
nung sagen." Er ließ
sich mit dem General-
stab telephonischverbin-
den. „Was haben Sie
inir für einen schreck-
lichen Menschen ge-
schickt," fauchte er den
Generalissimus an. „Er
nennt mir nur Zahlen,
nichts als Zahlen!"
„Zahlen?" entgegnete
Joffre erstaunt. „Um's
Himmels willen, da ha-
ben wir Ihnen aus Ver-
sehen den Statistiker des
Generalstabs gesandt.
Ich weiß, das ist ein
langiveiliger Mensch.
Doch wir müssen ihn
leider haben. Entschuldigen Sie schon! Er soll
heimkehren, der Zahlenmensch."
Briand legte erleichtert den Hörer fort. „Sie
solle» heimkehren. Sie Zahlenmensch! Es liegt
ein Mißverständnis vor," wandte er sich an den
Herrn aus dem Generalstab. „Und wenn Sie
ivieder einmal zu mir kommen, so merken Sie
sich: Zahlen interessieren mich absolut nicht!"
__ M.
Der Äeimkrieger.
Or. Kannegießer (am Stammtisch): Und ich
sage Ihne», mit dem vielgepriesenen Hinden-
burg ist es auch nichts. Er weiß offenbar
nicht, was er machen soll. Sonst würde er
doch etwas darüber verlauten lassen — —!
Jetzt mußte er die Übung vor dem Barreu
machen, doch immer noch i» Reichweite der
Stangen für den Fall, daß er kippen sollte.
Auch das ging, wenn auch mit saurem Schweiß.
„So, und nun probieren Sie es einmal ganz
frei. Nur langsam, hübsch langsam! Und immer
aus der Hüfte gehen, Herr Tüchsen!"
Wohl zehnmal ließ der Orthopäde den In-
validen im Zimmer ans und ab gehen. Dann
rückte er ihm den Stuhl hin, und während
sich Tüchsen erschöpft niederließ, prüfte der
Orthopäde die Span-
nung der Riemen und
die Geschmeidigkeit der
Gelenke an der Prothese.
„Alles in Ordnung!
Trauen Sie sich de» Weg
nun bis zur Haltestelle
zu, oder soll ich Ihnen
jemand zur Begleitung
mitgeben?"
Tüchsen schüttelte ver-
neinend den Kopf, gab
dein freundlichen Mann
dankbar die Hand und
verließ langsam, Schritt
vor Schritt setzend, die
Anstalt.
Es war doch zu merk-
würdig. Da hatte er nun
einen künstlichen Fuß,
und er spürte doch ganz
deutlich das Knie, die
Fußsohle, die Zehen,
alles Dinge, die seit elf
Monaten Gott weiß wo
vermodern.
Das leise Knirschen
der Riemen, dann und
wann einfeinesKnacken
von Metallteilen ge-
mahnte ihn inimer wie-
der an die Wirklichkeit.
Nun würden sie ihn
ja bald daheim sehen,
Antje, seine Frau, und
der kleine Klaus, sein
wilder, kleiner Junge,
den> er kurz vor dem
Krieg noch das Laufen
gelehrt hatte.
Wie wird Klaus heute
laufen? Besser als sein
Vater, denn bei ihm
geht es auf zwei echten,
gesunden Beinen. . . .
Heiß stieg es bei diesem Gedanke» in der
Brust Tüchsens auf, und ehe er es noch hin-
dern konnte, rann es glühend aus den weit
offenen, starr geradeaus gerichteten Augen.
Das war die erste und die letzte Träne, die
Musketier Tüchsen seinem verlorenen Bein
nachweinte. Als er bei der Haltestelle ankam,
zeigte er ivieder das gewohnte harte Gesicht
eines vom Leben geschmiedeten Mannes.
Das Versehen.
Briand wollte wieder einmal in der fran-
zösischen Kammer eine Rede halten und dabei
auch nähere Angaben über die französisch-
englischen Erfolge an der Westfront machen.
Er ließ sich, um der Kammer nur beglaubigte
Tatsachen mitteilen zu können, jemand aus
dem Generalstab kommen, der ihm Informa-
tionen geben sollte.
„Wir haben", begann der Herr, „noch ein
Heer von 4925391 Mann."
„Eine stattliche Zahl!" rief Briand erfreut,
aus. „Solche Zahlen höre ich gern."
„Davon sind in den Krankenhäusern, Gene-
sungs- und Krüppelheimen 1567203 Mann."
„So viel?" fragte Briand erstaunt.
„Briand ries: „Wollen Sie mich zu Tode
langweilen? Zahlen, nichts als Zahlen! Die
behalte ich doch nicht!"
„Sie wollten doch Informationen!"
„Natürlich! Doch so viel Zahlen sind mir
zuwider, verstehen Sie?"
„Ich verstehe vollkommen," erividerte der
Herr aus dem Generalstab. „Doch ich bin gleich
fertig. 300 Quadratkilometer haben wir zurück-
erobert und dabei 800000 Mann geopfert. 3000
Quadratkilometer würden uns also 8 Mil-
lionen und 30000 Qua-
Französische Karikaturen aus dem Kriege 1870/71.
Die Geschichte des zweiten Kaiserreichs. Bon Houorö Daumier.
„Ich gebe die genaue Zahl an. Seit Beginn
des Krieges haben wir übrigens an Toten und
Verwundeten 3976453 Soldaten verloren."
„Das interessiert mich nicht!" erklärte Brirnd
verstimmt und rückte nervös im Klubsessel hin
und her.
„Die Feinde haben noch immer 50000 Qua-
dratkilometer französischen Bodens besetzt."
„Leider!" warf Briand ein und gähnte.
„Wir haben bereits etwas zurückerobert."
„Etivas?"
„Es können 300 Quadratkilometer sein. Die
genaue Messung liegt noch nicht vor."
„Die brauche ich nicht," entgegnete Briand.
„Schön! Wir haben dabei 800000 Man»
verloren, allein an Toten 400000."
dratkilometer 80 Mil-'
Honen Mann kosten. Da
die gesamte Bevölke-
rung Frankreichs ein-
schließlich Frauen, Kin-
dern und Greisen sich
auf 40 Millionen be-
ziffert, so müßte auch
England seine gesamte
Bevölkerung zur Ver-
füg un g stellen, und w enn
beide Lander ihr ganzes
Menschenmaterial ge-
opfert hätten, so würde
der Feind Voraussicht-^
lich immer noch 20000
Quadratkilometer un-
seres Landes in Händen
haben."
Jetzt sprang Briand
zitternd vor Wut auf:
„Was erlaubenSie sich?
Ich finde Ihr Verhalten
empörend und werde
Joffre gleich meine Mei-
nung sagen." Er ließ
sich mit dem General-
stab telephonischverbin-
den. „Was haben Sie
inir für einen schreck-
lichen Menschen ge-
schickt," fauchte er den
Generalissimus an. „Er
nennt mir nur Zahlen,
nichts als Zahlen!"
„Zahlen?" entgegnete
Joffre erstaunt. „Um's
Himmels willen, da ha-
ben wir Ihnen aus Ver-
sehen den Statistiker des
Generalstabs gesandt.
Ich weiß, das ist ein
langiveiliger Mensch.
Doch wir müssen ihn
leider haben. Entschuldigen Sie schon! Er soll
heimkehren, der Zahlenmensch."
Briand legte erleichtert den Hörer fort. „Sie
solle» heimkehren. Sie Zahlenmensch! Es liegt
ein Mißverständnis vor," wandte er sich an den
Herrn aus dem Generalstab. „Und wenn Sie
ivieder einmal zu mir kommen, so merken Sie
sich: Zahlen interessieren mich absolut nicht!"
__ M.
Der Äeimkrieger.
Or. Kannegießer (am Stammtisch): Und ich
sage Ihne», mit dem vielgepriesenen Hinden-
burg ist es auch nichts. Er weiß offenbar
nicht, was er machen soll. Sonst würde er
doch etwas darüber verlauten lassen — —!