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Das Jahrhundert von Karl Marx.

undert Jahre sind es, seit Karl Marx die Augen aüf-
schlug, um die Welt zum erstenmal zu sehen, die er wie
kein anderer durchschauen sollte. Es war der stille Augenblick,
die Atempause nach der Amwälzung Europas, die von Frank-
reich ihren Ausgang nahm, und heute, da wir sein Zentenarium
feiern, geschieht es mitten in einer blutigen Umwälzung der
ganzen Welt, deren Ausgang und Ergebnis noch kein Sterb-
licher zu ermessen vermag. Dazwischen liegt ein Jahrhundert
der ungeheuersten Entwicklung. Das damals junge Kapital,
das in seinen Anfängen steckte, umfaßt heute die Welt, be-
herrscht, umklammert, würgt
sie; das Proletariat, das ein
Kind war, ist zum Manne er-
wachsen und mitten im Kampfe
nicht nur als leidendes, sondern
als in erster Linie mit entschei-
dendes Element.

Kaum dreißig Jahre war
Marx alt, da schleuderte er zu-
sammen mit Engels das Kom-
munistische Manifest in die
Welt, und mit einem Schlage
gab er dem Proletariat, das sich
noch in seinen ersten Iugend-
jahren befand, Augen, um sich
selbst zu erkennen, und wies ihm
das Ziel für sein Wollen. Nicht
Vorschrift brachte er ihm, son-
dern Erkenntnis. Er deutete ihm
die kapitalistische Welt mit ei-
nem Wissen von Dingen ohne-
gleichen, erworben schon da-
mals und wie erst später mit
jener Arbeitsenergie, die uns
immer gigantischer erscheint,
je mehr allmählich aus seinen
hinterlassenen Schriften davon
enthüllt wird. Er gab dem
Proletariat die Leuchte in die
Äand, sich selbst zu erkennen,
seine eigene Rolle in der Ge-
schichte zu begreifen, seinen Weg zu finden und damit die
Kraft und sein Wollen zur Tat werden zu lassen.

Wer von Karl Marx spricht, spricht auch von Friedrich
Engels. Der Lebensbund dieser beiden Männer steht einzig
da in der Geschichte: mehr als Freundschaft, mehr als brüder-
liche aufopfernde Liebe, eine Arbeitsgemeinschaft, die fern von
aller sentimentalen Gefühlsprotzerei zwei geniale Menschen
vereinigte, in allen ihren Lebensäußerungen, nicht minder in
dem trivialen Detail des Alltäglichen als in dem, was ihr
Wesen war, dem faustischen Ringen nach Erkenntnis und
dem Kampfe um die Zukunft der Menschheit und die Befrei-
ung der Arbeiterklasse. Als vor wenigen Jahren die Ver-
öffentlichung des Briefwechsels ein Stück des Vorhangs von
diesem erhebenden Bilde wegzog, war die Welt, Feind wie
Freund, voll der staunenden und verehrenden Bewunderung.
Nun erst ist Engels neben Marx zu seinem Recht gekommen,
er, dessen .Hingebung und Bescheidenheit selbst daran schuld
war, daß er gewissermaßen nur als Äilfskraft von Marx ein-
geschätzt wurde, nicht aber als gleichwertiger und gleichwirken-
der Mitarbeiter, der er in Wirklichkeit gewesen und als der er
von Marx anerkannt und geliebt wurde.

Da wir nun diese Feier begehen, endet das Jahrhundert in
jener furchtbaren Katastrophe, die uns den Atem raubt und
fast die Besinnung nimmt. Der geschichtliche Inhalt dieser
hundert Jahre ist die Riesenentwicklung des Kapitalismus
über die ganze Erde, seine Ausweitung zum Imperialismus,
eine grandiose ungeahnte Entfaltung der Produktivkräfte mit
wachsender Anfähigkeit der besitzenden Klaffen, sie zu beherr-
schen, bis es zu einer jener Krisen gekommen, die Marx und
Engels oft beschrieben und gedeutet, deren Amfang und Tiefe,
wie wir sie erleben, sie jedoch nicht ahnen konnten. In diese

Krise aber treten die Proleta-
riate ein, ganz anders gewapp-
net und gegliedert, als sieMarx
seinerzeit gekannt hat. Trotzdem
werden sie vom Wirbel ersaßt
und mit fortgerissen, ausein-
andergerissen, gegeneinander
geschleudert. Dieser Krieg hat
gleich einem gewaltigen Erd-
beben einen Zustand geschaffen,
der alles zu vernichten droht,
die primitivste» Existenzverhält-
nisse jedes Einzelnen, jeder
Klaffe, jedes Staates und jeder
Nation, der die natürlichsten
Bedingungen des Lebens und
der Zukunft des Menschenge-
schlechtes an ihrer Wurzel ver-
giften, wenn nicht ausroden
muß. Da ist es denn kein Wun-
der, daß überall, über alle
Klassengegensätze hinweg, die
Solidarität der Lebensgemein-
schaft und Schicksalsgemein-
schaft in Nation und Staat sich
geltend macht, daß die nationale
Selbstbehauptung und Landes-
verteidigung als durch die Not
der Zeit jedem Proletariat un-
vermeidlich auserlegte, bitter
empfundene, aber restlos er-
füllte Pflicht erscheint, und daß es, weil der Widerspruch zu
dem bereits klar erkannten Besitztum der Arbeiterklasse gewor-
denen Bewußtsein der internationalen Solidarität des Prole-
tariats schmerzlich gefühlt wird, zuVerwirrung und Verworren-
heit kommt. Solche Wirrnis war auch bei früheren Konflikten
nicht unbekannt, und der Briefwechsel von Marx und Engels
zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges zeigt mit größter
Deutlichkeit, mit welcher Schärfe und unbeirrbaren Äberlegen-
heit die beiden in London die Folgerungen aus der Tatsache
zu ziehen wußten, daß der Krieg in Deutschland zum „National-
krieg" geworden.

Die Internationale hat die Gefahr seit langem klar er-
kannt und noch zuletzt in Basel Worte und Losungen ge-
funden, die vom besten Geiste von Marx und Engels ge-
tragen waren. Aber als das Gefürchtete und Vorhergesehene
in entsetzlicher Wirklichkeit hereinbrach, da zeigte sich, daß das
Proletariat noch zu schwach war, um es zu hindern, aber
schon,zu stark, um sich aller Verantwortungen entledigen zu
können und wie einst mit mutigem Protest zur Seite stehen
zu dürfen. So kam Verwirrung in die Politik des Prole-
tariats; in der Zerklüftung wurde die Organisation der Inter-
 
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