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nationale zur praktischen Wirkungslosigkeit verurteilt. Aber
wer meint, daß sie auf immer in Scherben gegangen ist, der
verkennt zweierlei: erstens, wie trotz aller Verschiedenheit und
alles Gegensatzes sich in säst allen Ländern dieselben einander
bekämpfenden Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse zeigen,
erzwungen durch die allen auferlegten unausweichlichen Not-
wendigkeiten, und zweitens, wie mitten in dem grausen Schick-
sal, einander morden zu müssen, der über allem stehende Ge-
danke der brüderlichen Solidarität der Arbeiter aller Nationen
nirgend und nicht einen Moment lang verlorengegangen ist.
Auf allen vom Graus beherrschten Kriegsschauplätzen, aus
allen Schützengräben wird uns täglich Kunde von Zeugnissen
für das durch nichts zu verdrängende und auszutilgende Be-
wußtsein der Zusammengehö-
rigkeit der arbeitenden Massen
diesseits und jenseits derBlut-
ströme. Was wird, weiß heute
niemand. Das aber läßt sich
schon erkennen, daß wir den in
aller bisherigen Geschichte ge-
waltigsten Bankrott eines welt-
umfassenden Systems erleben,
daß die kapitalistische Gesell-
schaft unfähig geworden ist, die
Widersprüche zu bewältigen,
die aus ihrer eignen Machtent-
wicklung entspringen, und daß
je riesenhafter die Gewaltmittel
werden, die ihnen unerhörte
technische Entwicklung in die
Land gibt, um so mehr ihre
Macht schwindet, sse zu ge-
brauchen. Immer mehr werden
sie willenlos dieGefangenen der
von ihnen entfesselten Gewalt.
Das ist jener die Geschichte be-
herrschende Konflikt, den Marx
mit genialem Blick gezeichnet,
aber nun auf einer von ihm und
Engels kaum geahnten Löhe
der Stufenleiter.
Schon ist das Angesicht Eu-
ropas völlig verändert durch
den Sieg der russischen Revo-
lution, den heißer sehnten Sieg über den Zarismus, der bisher
Lebelpunkt und Rückhalt aller konterrevolutionären Kräfte
war. Was immer das Ergebnis des russischen Dramas sein
möge, der Alpdruck ist abgewälzt, mit der Beherrschung Euro-
pas ist es vorbei, und dafür, daß die Mission, Kerkermeister
und Lenker jeder befreienden Entwicklung zu sein, da sie in
Petersburg vernichtet, nicht weiter westlich übernommen werde,
dafür wird die Arbeiterklasse sorgen, die trotz alledem, zwar de-
zimiert und zunächst durch Blutverlust bedrängt, aber im Geist
und Willen gestählt, neu erleuchtet durch übermenschliche Er-
fahrung und — kaum wagt man das scheinbar Widerspruchs-
volle auszusprechen — einander näher gebracht worden ist gerade
durch die gemeinsam durchlebten Schrecknisse des Krieges.
Freilich schwere Wirrnis, die der Krieg geschaffen, wird
überwunden werden müssen und überwunden werden. Ist doch
sogar die machtvolle Einheit der deutschen Sozialdemokratie,
der Stolz und der Ruhm der ganzen Internationale, auf das
schwerste gefährdet und scheinbar in die Brüche gegangen. So
schmerzhaft das ist, so wenig ist es erstaunlich. Wir mußten
das Schicksal des Krieges auf uns nehmen bis in alle seine
Konsequenzen und dabei jede Verantwortung für seine Ent-
zündung und Fortführung ablehnen. Wir mußten dem Prole-
tariat in der Not des Tages zu helfen suchen, uns auf den
Boden des Nationalkrieges begeben und doch eben diesen Krieg
verurteilen. Diejenigen von uns, die das Auge auf das Ganze
der Entwicklung richteten, die weltgeschichtlichen Geschehnisse
verfolgten und übersahen, geraten in Gefahr, zu einer Politik
zu kommen, die zwar häufig der Stimmung entspricht, die aus
den Nöten des Tages geboren ist, aber nicht ihren wirklichen
und wirksamen Bedürfnissen. Gegenseitig verführt man ein-
ander zu Exzessen, die um so schmerzlicher empfunden werden,
je näher uns der Verüber gestanden war. Da kann es geschehen,
daß Genossen meinen, die vom Kriege erzwungene Einheit des
Volkes, die Marxens Kritik erbarmungslos in Klassen zerrissen
hat, sei wieder auf die Dauer
zusammengeleimt, und daß aus
der andern Seite, die jede
Berührung mit den heutigen
Machthabern als unsühnbaren
Sündenfall verdammt, die Be-
sorgnis sich zeigt, der Klassen-
kampf und das Bewußtsein von
seiner unerbittlichen Notwen-
digkeit könne den Massen ab-
handen kommen. And je trüber
die Zeit ist, um so mehr wird der
Streit vergiftet, allzu Mensch-
liches mischt sich überall ein.
Je schmerzhafter wir das alles
empfinden, um so besser für uns
und unsere Zukunft,umso siche-
rerundschnellerwird esinjedem
Lande, vor allem in Deutsch-
land überwunden sein. Wenn
sich der Blutnebel verzogen
haben wird, wenn vor unseren
Blicken das Neue liegen wird,
das sich dem Mutterschoße des
Gewesenen unter furchtbarsten
Krämpfen entbunden hat,wenn
die neuen Aufgaben erkennbar
sein werden, die dem Proleta-
riat gestellt sind, dann wird auch
die Einheit wieder kommen, weil
sie kommen muß, dann wird gut
gemacht werden, was durch den Streit jetzt in Vergeudung
edelster Kräfte gesündigt wurde. Es wird uns wieder zuin Be-
wußtsein kommen, das was Marx den Ausgebeuteten der gan-
zen Welt als befreiende Losung zurief: „Proletarier aller
Länder, vereinigt euch !" — soll es erfüllt werden aber zur Vor-
aussetzung hat, daß zunächst zur Wahrheit werde: Proletarier
jedes Landes, vereinigt euch! Auf dieser neuerrungenen, vom
Bewußtsein der täglich wachsenden Macht des Proletariats
in der neuen kommenden Welt wird die erneute Internationale
errichtet werden und wird sie, die bisher nur Ergebnis und
Summe der erst allmählich wachsenden Macht des Proletariats
sein konnte, nunmehr auch zu ihrer ergiebigsten Quelle werden.
Voran leuchten aber wird der Internationale der Name des
Mannes, der dem Jahrhundert, dessen Verenden nun von
einem Glühen ohnegleichen beleuchtet wird, mehr als irgend
ein anderer seinen Stempel aufgedrückt, der den Werdegang
der kapitalistischen Welt durchschaut, dein Proletariat seiiren
Weg erleuchtet lind seine Würde gegeben hat, der es schon im
Kommunistischen Manifest vor siebzig Jahren aufgerufen als
„die revolutionäre Klasse, welche die Zukunft in
ihren Länden trägt". Viktor Adler (Wien).
nationale zur praktischen Wirkungslosigkeit verurteilt. Aber
wer meint, daß sie auf immer in Scherben gegangen ist, der
verkennt zweierlei: erstens, wie trotz aller Verschiedenheit und
alles Gegensatzes sich in säst allen Ländern dieselben einander
bekämpfenden Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse zeigen,
erzwungen durch die allen auferlegten unausweichlichen Not-
wendigkeiten, und zweitens, wie mitten in dem grausen Schick-
sal, einander morden zu müssen, der über allem stehende Ge-
danke der brüderlichen Solidarität der Arbeiter aller Nationen
nirgend und nicht einen Moment lang verlorengegangen ist.
Auf allen vom Graus beherrschten Kriegsschauplätzen, aus
allen Schützengräben wird uns täglich Kunde von Zeugnissen
für das durch nichts zu verdrängende und auszutilgende Be-
wußtsein der Zusammengehö-
rigkeit der arbeitenden Massen
diesseits und jenseits derBlut-
ströme. Was wird, weiß heute
niemand. Das aber läßt sich
schon erkennen, daß wir den in
aller bisherigen Geschichte ge-
waltigsten Bankrott eines welt-
umfassenden Systems erleben,
daß die kapitalistische Gesell-
schaft unfähig geworden ist, die
Widersprüche zu bewältigen,
die aus ihrer eignen Machtent-
wicklung entspringen, und daß
je riesenhafter die Gewaltmittel
werden, die ihnen unerhörte
technische Entwicklung in die
Land gibt, um so mehr ihre
Macht schwindet, sse zu ge-
brauchen. Immer mehr werden
sie willenlos dieGefangenen der
von ihnen entfesselten Gewalt.
Das ist jener die Geschichte be-
herrschende Konflikt, den Marx
mit genialem Blick gezeichnet,
aber nun auf einer von ihm und
Engels kaum geahnten Löhe
der Stufenleiter.
Schon ist das Angesicht Eu-
ropas völlig verändert durch
den Sieg der russischen Revo-
lution, den heißer sehnten Sieg über den Zarismus, der bisher
Lebelpunkt und Rückhalt aller konterrevolutionären Kräfte
war. Was immer das Ergebnis des russischen Dramas sein
möge, der Alpdruck ist abgewälzt, mit der Beherrschung Euro-
pas ist es vorbei, und dafür, daß die Mission, Kerkermeister
und Lenker jeder befreienden Entwicklung zu sein, da sie in
Petersburg vernichtet, nicht weiter westlich übernommen werde,
dafür wird die Arbeiterklasse sorgen, die trotz alledem, zwar de-
zimiert und zunächst durch Blutverlust bedrängt, aber im Geist
und Willen gestählt, neu erleuchtet durch übermenschliche Er-
fahrung und — kaum wagt man das scheinbar Widerspruchs-
volle auszusprechen — einander näher gebracht worden ist gerade
durch die gemeinsam durchlebten Schrecknisse des Krieges.
Freilich schwere Wirrnis, die der Krieg geschaffen, wird
überwunden werden müssen und überwunden werden. Ist doch
sogar die machtvolle Einheit der deutschen Sozialdemokratie,
der Stolz und der Ruhm der ganzen Internationale, auf das
schwerste gefährdet und scheinbar in die Brüche gegangen. So
schmerzhaft das ist, so wenig ist es erstaunlich. Wir mußten
das Schicksal des Krieges auf uns nehmen bis in alle seine
Konsequenzen und dabei jede Verantwortung für seine Ent-
zündung und Fortführung ablehnen. Wir mußten dem Prole-
tariat in der Not des Tages zu helfen suchen, uns auf den
Boden des Nationalkrieges begeben und doch eben diesen Krieg
verurteilen. Diejenigen von uns, die das Auge auf das Ganze
der Entwicklung richteten, die weltgeschichtlichen Geschehnisse
verfolgten und übersahen, geraten in Gefahr, zu einer Politik
zu kommen, die zwar häufig der Stimmung entspricht, die aus
den Nöten des Tages geboren ist, aber nicht ihren wirklichen
und wirksamen Bedürfnissen. Gegenseitig verführt man ein-
ander zu Exzessen, die um so schmerzlicher empfunden werden,
je näher uns der Verüber gestanden war. Da kann es geschehen,
daß Genossen meinen, die vom Kriege erzwungene Einheit des
Volkes, die Marxens Kritik erbarmungslos in Klassen zerrissen
hat, sei wieder auf die Dauer
zusammengeleimt, und daß aus
der andern Seite, die jede
Berührung mit den heutigen
Machthabern als unsühnbaren
Sündenfall verdammt, die Be-
sorgnis sich zeigt, der Klassen-
kampf und das Bewußtsein von
seiner unerbittlichen Notwen-
digkeit könne den Massen ab-
handen kommen. And je trüber
die Zeit ist, um so mehr wird der
Streit vergiftet, allzu Mensch-
liches mischt sich überall ein.
Je schmerzhafter wir das alles
empfinden, um so besser für uns
und unsere Zukunft,umso siche-
rerundschnellerwird esinjedem
Lande, vor allem in Deutsch-
land überwunden sein. Wenn
sich der Blutnebel verzogen
haben wird, wenn vor unseren
Blicken das Neue liegen wird,
das sich dem Mutterschoße des
Gewesenen unter furchtbarsten
Krämpfen entbunden hat,wenn
die neuen Aufgaben erkennbar
sein werden, die dem Proleta-
riat gestellt sind, dann wird auch
die Einheit wieder kommen, weil
sie kommen muß, dann wird gut
gemacht werden, was durch den Streit jetzt in Vergeudung
edelster Kräfte gesündigt wurde. Es wird uns wieder zuin Be-
wußtsein kommen, das was Marx den Ausgebeuteten der gan-
zen Welt als befreiende Losung zurief: „Proletarier aller
Länder, vereinigt euch !" — soll es erfüllt werden aber zur Vor-
aussetzung hat, daß zunächst zur Wahrheit werde: Proletarier
jedes Landes, vereinigt euch! Auf dieser neuerrungenen, vom
Bewußtsein der täglich wachsenden Macht des Proletariats
in der neuen kommenden Welt wird die erneute Internationale
errichtet werden und wird sie, die bisher nur Ergebnis und
Summe der erst allmählich wachsenden Macht des Proletariats
sein konnte, nunmehr auch zu ihrer ergiebigsten Quelle werden.
Voran leuchten aber wird der Internationale der Name des
Mannes, der dem Jahrhundert, dessen Verenden nun von
einem Glühen ohnegleichen beleuchtet wird, mehr als irgend
ein anderer seinen Stempel aufgedrückt, der den Werdegang
der kapitalistischen Welt durchschaut, dein Proletariat seiiren
Weg erleuchtet lind seine Würde gegeben hat, der es schon im
Kommunistischen Manifest vor siebzig Jahren aufgerufen als
„die revolutionäre Klasse, welche die Zukunft in
ihren Länden trägt". Viktor Adler (Wien).