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9611

Elsaß-Lothringen.

Und waä dem einen Freude macht,
Dem andern macht's Verdruß.

knüpft sich uns traurige Ende
Die fröhliche Gegenwart an.

„Ich geh in die Klappe.

Soll ich dir was zurecht-
stellen, — aufm Kocher?"

„Nee, ich krieg da voll
genug

Sie wandte sich zum
Gehen. Er stand auf und
zündete die große Lampe in
der Bude an. Sie leuchtete
sehr stark und hing so, daß
ihr Schein nach außen aus
die Bank fiel. Dann setzte er
sich wieder nieder und nahm
die Zeitung vor. Während
des Lesens entging ihm kein
Geräusch in der Umgegend.

Er hörte Leute, die sich dem
Bahnübergang näherten.

Er unterschied das Klap-
pern ihrer Stiesel auf den
Schienen und dem Pflaster.

Er las von dem Balkankrieg
und dein Panamakanal und
horchte zwischendurch den
tickenden Telegraphen ab;
er las, daß man daheim in
seinem Kirchdorf einen neuen
Bürgermeister bekommen
hatte, und, ohne sich ln sei-
nen Erinnerungen stören zu
lassen, empfing er die har-
ten Klänge des Strecken-
geläutes. —

Frau Markmann trat
durch den „Eingang für
Lieferanten" in die Billa
des Direktors Hagenom. Sie
machte sich sofort in der
Küche und den Nebenräu-
men nützlich. Oben ging es
hoch her. Pracht und Glanz,

Summen und fröhliches
Lachen vereinten sich zu ei-
nem feinen Bilde. Zweiund-
vierzig Personen feierten
den neuesten Bühnenerfolg Doktor Goldners,
desFreundes des Hauses. Um Goldner hatte sich
ein dichter Kreis gebildet. In der linken Hand
hielt er ein Glas mit Sekt. Unvermittelt ließ
er einen Vorschlag steigen, der jubelnde Zu-
stimmung fand.

„Nacht ist's, am Himmel strahle» die Sterne,
und tief im Schlafe liegt 's Philistertum. Wir
ziehen durchs Dorf! Wir nehmen Lichter mit.
Laßt uns auf den Wiesen tanzen und die
Stätte weihen, auf die das Frühlicht seine
Tauperlen werfen wird! Es lebe die göttliche
Tollheit über niederem Gewürm!"

Die Musik mußte mit. Nur der Herr Direktor
hatte es mit ein paar älteren Herren vorge-
gezogen, im Hause zu bleiben. Singend und
scherzend schlängelte sich der Zug zwischen ver-
schlafenen Gehöften hindurch.

„Die Augen der erstaunten Unterwelt!"
raunte Goldner, als sich behutsam eine Gar-
dine zurückschob und verwirrt forschende Auge»
durch die Scheibe sahen.-»

Markmann hatte von seinem Wärterhäus-
chen das Treiben schon lange beobachtet. Er
konnte nur Lichter sehen und Klänge hören.
„Ganz nett," knurrte er, „aber verrückt —
und betrunken." Dann sah er, wie sie ins Dorf

zogen. In den Zwischenräumen zwischen den
einzelnen Gehöften konnte er immer wieder
die glühende Schlange in ihren Windungen
erblicken. Und nun kamen sie sogar hier herauf
und — wahrhaftig, sie zogen nach seinem Bahn-
übergänge. Der Schnellzug war eben signali-
siert worden. Es schien ihm richtiger, die Leute,
die nicht mehr ganz nüchtern waren, gar nicht
erst auf den Bahndamm zu lassen. Sie kamen
immer näher und tanzten und lachten.

Er entschloß sich, ging an die Barrieren
und kurbelte sie herunter. Dann eilte er an
den Signalmast und gab die Fahrt frei und
holte seinen Flaggenstock. Noch war es ja
Zeit. Er wollte sich doch mal die Gesellschaft
ansehen. Vielleicht gab's auch Verdrehte, die
über die Schranken kletterten. „Denn betrun-
ken sin se."

Am Horizont glühten die beiden feurigen
Augen auf. Markmann hörte schon das feine
Vibrieren in den Schienen. Er stand dicht
bei der Barriere und sah in die Gesellschaft
hinein. Ein kaltes Gesicht, fürsorglich abwä-
gend, in lauter fröhliche und lachende; ein
Stummer in das Klingen übermütiger Freude;■
ein Verantwortlicher in sprudelnde Sorg-
losigkeit.

Goldner stand dicht an
dem Balken in der Mitte
der anderen. Er hatte einer
jungen Dame ihren Riesen-
strohhut abgenommen und
sich aufgesetzt. Und während
er eine begeisterte Rede auf
die Poesie der stählernen
Technik hielt, war ihm der
wundersame Strohhut im-
mer mehr ins Genick ge-
glitten. Markmann war
nicht der Mann, den Kopf
zu schütteln. Er dachte nur:
„Wenn erst der Zug heil
vorüber wäre!"

Das Stöhnen und Schnau-
ben kam näher. Der Erd-
boden begann zu zittern.
Und dann kam die unheil-
volle Masse herangesaust.
Markmann stand an dervor-
geschriebenen Stelle, hatte
den Kopf aber zur Seite nach
derBarriere gewandt. Dann
krachte der schwere Koloß
vorüber und warf ausseinen
Fenstern eine blendende hu-
schende Lichtflut über eine
tobende grüßende Schar.
Markmann sah, wie der
Mann mit dem Frauenhut
diesen im großen Bogen
schwenkte; wie ihm der Hut
von dem saugenden Luft-
zug aus der Faust gerissen
wurde; er sah, wie jener
den Mund zum Schreien
geöffnet hatte, und daß die
andern alle, tanzend und
mit hochgereckten Armen,
wilde und heftige Grüße
gegen den Zug schleuderten.

Dann war der Lichter-
schein vorüber. Die roten
Schlußlampen wurden kleiner und schoben sich
immer enger aneinander. Er setzte das Signal
hinter dem Zuge auf „Halt", stellte den Stock
an seinen Ort und ging hin, die Barrieren
hochzuwinden.

Frau Direktor Hagenow sah ihn an, als
er vorbeikam. Sie schob ihren Arm unter den
Goldners. „Mein Gott, wenn ich — dem —
ins Gesicht sehe, friert inich bis ins Herz.
Dieser schreckliche, schreckliche Stumpfsinn —"

Die Balken gingen hoch, und der fröhliche
Zug tanzte über die Schienen.

Markmann löschte alle Lichter aus, verrie-
gelte die Fenster und schloß das Wärterhaus
zu. Dann schob er den Schlüssel in die Tasche
und wollte nach einem Rundblicke nach Haus
gehen. Jenseits des Überganges sah er etwas
Weißes im Knick hängen. Erholte denFrauen-
hut her und sah ihn tiefsinnig an. ,,'n Ding,
wo seine fuszig Mark kost't. Sicher. Bon so'n
Geld leben wir drei Wochen. Ich kann'n ja
mitnehmen. Ich weeß ja, wo er hingehör'n
tut. Nee, laß —" sagte er dann und brachte
den Hut wieder an denselben Fleck, „die täte
sich ja schämen missen, wann ich mit ihm an-
käm. Laß 'n se sich alleene hol'n." — Als er
nach Hause kam, saß seine Frau aus der Bett-
 
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