Behüt' dich Gott!...
Silvester-Groteske von Alarich Borax
Es gibt Leute, und es sind nicht nur solche,
die schon einmal eine Gehirnerschütterung er-
litten haben, sondern auch andere, die die
Nacht zum neuen Jahr als einen Wendepunkt
ihres Lebens betrachten und in der Silvester-
nacht der prophetischen Beschäftigung des
Bleigießens obliegen.
Aber diese Leute können sich alle mit ihren
Bleiklumpenmysterien in die Windeln ihrer
Säuglingszeit einwickeln lassen, zieht man den
Vergleich mit dem, was ich in einer Silvester-
nacht erlebte. Ich würde es nicht glauben,
wenn ich es nicht selbst erzählte.-
Als ich nämlich mit meinem Freunde August
— er nennt sich eigentlich Augustus, um mit
dem vulgär populären „dummen August" nicht
verwechselt zu werden — zu der Gesellschaft
(120 Geladene!) stieß, die bei einem über Nacht
zum „Neuen Reichen" gewordenen Bekannten
von uns zu einem Glase Punsch (mit Fort-
setzung!) zusammengekommen war, hatten wir
eigentlich schon längst den ausgiebigsten Ge-
brauch von den üblichen Silvestergetränken
gemacht. Eine Feststellung, die man auch aus
gehöriger Entfernung an uns hätte machen
können. Wir verfügten daher über eine her-
kulische Unternehmungslust. Da sich uns aber
augenblicklich kein anderes Betätigungsfeld als
die Gesellschaft oder der Punsch bot, so ent-
schieden wir uns rasch entschlossen für den
letzteren und erstritten aufsehenerregende Re-
korde auf diesem Gebiet.
Da kam die feierliche Handlung des Blei-
gießens an unsere Reihe, und ich goß —
darüber war man sich schnell einig — den
„Trompeter von Säckingen". Einer hatte ihn
aus seiner fragwürdigen Gestaltung heraus-
gedeutet und alle übrigen waren plötzlich mit
einem Sturme der Begeisterung derselben Mei-
nung. Es war nichts daran zu ändern.
Nun bedeutete aber für mich der Trompeter
von Säckingen von je soviel wie für einen
Gartenwirtschaftspächter ein Wolkenbruch oder
für einen Monarchisten der neunte November.
Ich hatte in meinem zwölften Lebensjahre
einem jener schmutzigen Italiener, die mit be-
malten Gipsfiguren hausierten, mit dem Blas-
rohr seinen Trompeter vom Thron geblasen,
daß er in Scherben ging und mein Vater für
den angerichteten Schaden aufkommen mußte.
Er war sehr, sehr hoch. „Damit du an den
Trompeter von Säckingen dein Leben lang
denkst," grollte mein Vater vergeltungswütig,
indem er einen Spazierstock an mir entzwei
schlug, der ein Erbstück vom Großvater war
und angeblich von irgendeinem Baume mit
Flusse Jordan in Palästina stammen sollte.
Der Fluß Jordan in Palästina, an dessen
Ufern solche Produkte gediehen, und der Trom-
peter von Säckingen blieben von da ab für
mich Gegenstände meines grimmigsten Hasses.
Dies alles wußte mein Freund August bis
in die letzten ausführlichsten Einzelheiten tmd
versäumte nicht, es allen Anwesenden zu er-
zählen.
Unterdessen waren mir fünf Liter Punsch
zur Beute gefallen, als ich beim Anbruch des
sechsten dem schreckensbleichen Angesicht der
gnädigen Frau unseres Gastgebers begegnete.
Schon während der Erzählung meines Freun-
des August war mir die sichtlich zunehmende
Nervosität der gnädigen Frau ausgefallen.
Jetzt heftete sie wie gelähmt von erstarrend
machender Angst ihren Blick an ein hochange-
brachtes Wandbrett. Ich folge ihm mit gie-
rigem Mißtrauen und — ha! — was muß ich
dort entdecken: auf dem Wandbrett thront
Der Pelzmantel
Dunkel war's, der Mond schien helle, als Nepomuk
Brindöpke mit seiner Frau Mariechen wildern ging.
In des Waldes tiefsten Gründen, hinter Bäumen
wohlverstcckt, lag Nepomuk auf der Lauer. Achtung!
Da naht ein Rehbock. — Tschin bum bautz!
Da kommt auch schon der alte Revierförster Schnur-
hahn um die Waldecke. Was tun? sprach der selige
Zeus in solchen Augenblicken, dachte Nepomuk und
legte seinem Mariechen einfach den Rehbock um den
Hals. Und Mariechen zog mit dem neuen Pelzmantel
an dem Förster vorbei.
Man sollte nicht glauben, wie weich und schmack-
haft man so einen Pelzkragen znbcreiten kann.
mit der ganzen Machtgebärde ihrer aufgebläht
dicktuerischen Kitschigkeit die Gipsfigur des
Trompeters von Säckingen! Schreiend grell-
bunt bemalt, stattlich steif auf seinem Sockel
prangend, im Munde die unvergeßbare Trom-
pete, an der ein Banner von violettem Samte
hängt, auf dein in Goldbuchstaben die unver-
gänglich aromatischen Worte: „Behüt' dich
Gott" gestickt sind.
Einen Augenblick lang überwältigte mich
sein Anblick. Der nächste sah mich auf dem
Plan. Ich fuhr wie ein von einen: Vortrag
Rudolf Steiners besessen Gewordener empor
und schleuderte mit zerschmetternder Wucht
mein Glas gegen den Trompeter. Seine stür-
zenden Trümmer zerschlugen die erst frisch ge-
füllte Punschterrine, daß der edle Saft über
Tisch und Perser in breiten Strömen floß. Der
Kopf des Trompeters mit der Fanfare im
Munde war unversehrt geblieben, ja, als wolle
er mich noch in seiner letzten Lebensstunde zuni
Äußersten aufreizen, wandte er mir, der Mund-
protz, auf einem Scherbenteile im Tode noch
sein hoffärtiges Instrument zu. Und ausge-
rechnet ins Gesicht. Ich zermalmte ihn voll-
ends mit einem geisterhaft durchs Haus dröh-
nenden Stuhlschlag, daß sein Staub nach allen
Windrichtungen spritzte.
Die Gesellschaft saß unfähig, sich zu rühren.
Sie saß wie in eine expressionistische Denkmal-
gruppe versteinert. Nur ihre Haare bewegten
sich, immer merklicher zu Berge stehend. In
richtiger Erkenntnis der Dinge, die nun kom-
men mußten, hatte sich mein Freund August
rechtzeitig auf einen Kronleuchter gerettet, unr
von dieser Höhe aus durch ein Zeißglas die
folgenden Ereignisse zu betrachten.
Endlich erhoben sich die Kavaliere wie au
Drähten gezogen von ihren Sitzen. Jetzt laufen
alle Schnecken, dachte ich bei mir und erriet
den Zweck ihres einmütigen Handgriffs, der
ihren Gläsern galt. Ich hatte mich nicht ge-
täuscht, die Kavaliere langten aus und warfen
mir die Gläser in flammendem Zorne zu.
120 Gläser schwirrten sausend und zischend
mir entgegen. Der Luftdruck war enorm.
Mit einer Geschicklichkeit und Gewandtheit,
die an Geschwindigkeit meine Lehrmeister so-
gar überbot - ich hatte diese Fingerfertigkeit
den Romanschriftstellerinnen unserer Gegen-
wart abgespäht —, sing ich sämtliche 120 Gläser
nacheinander auf, um sie ebenso rasch auf dem-
selben Wege den Absendern zurückzusendcn.
Die Gläser barsten an den Köpfen. Eine Se-
kunde lang herrschte ohrenbetäubendes Klirren
von Scherben. Die anwesenden Damen fielen
wie auf Kommando in Ohnmacht. Dann sah
ich blutige Köpfe und mit Punsch und Gips-
staub beschmutzte Körper in heilloser Verwir-
rung durcheinander rennen. Bald war die
ganze Zimmereinrichtung auf den Kopf gestellt
und nahm immer mehr die gleiche Färbung
und Klebrigkeit an. Die drei Dutzend Punsch-
näpfe und das übrige immense Inventar von
Gipsfiguren, die bei Ausbruch der Panik in
Stücke gingen, verbanden sich zu einer zähen
Masse, die die Bewegungsfreiheit meiner
Widersacher hemmte und einschränkte. Sie
blieben teils an Möbeln hängen, -teils konn-
ten sie in dem Sumpf, der sich auf dem Boden
bildete, und in dem sie brüllend und zeternd
herumstapften, nicht mehr vorwärts kommen.
Ich zündete mir gelassen eine Zigarette an
und sah, auf einem Tisch stehend, zum Fenster
hinaus. Meine Gleichgültigkeit erregte den er-
bittertsten Unwillen.
Man alarmierte die Feuerwachen, die sani-
tären Hilfsstellen, die Polizei und die Gefäng-
nisse. Und ehe man sich's versah, waren alle
zur Stelle, deutlicher gesagt: wollten alle zur
Silvester-Groteske von Alarich Borax
Es gibt Leute, und es sind nicht nur solche,
die schon einmal eine Gehirnerschütterung er-
litten haben, sondern auch andere, die die
Nacht zum neuen Jahr als einen Wendepunkt
ihres Lebens betrachten und in der Silvester-
nacht der prophetischen Beschäftigung des
Bleigießens obliegen.
Aber diese Leute können sich alle mit ihren
Bleiklumpenmysterien in die Windeln ihrer
Säuglingszeit einwickeln lassen, zieht man den
Vergleich mit dem, was ich in einer Silvester-
nacht erlebte. Ich würde es nicht glauben,
wenn ich es nicht selbst erzählte.-
Als ich nämlich mit meinem Freunde August
— er nennt sich eigentlich Augustus, um mit
dem vulgär populären „dummen August" nicht
verwechselt zu werden — zu der Gesellschaft
(120 Geladene!) stieß, die bei einem über Nacht
zum „Neuen Reichen" gewordenen Bekannten
von uns zu einem Glase Punsch (mit Fort-
setzung!) zusammengekommen war, hatten wir
eigentlich schon längst den ausgiebigsten Ge-
brauch von den üblichen Silvestergetränken
gemacht. Eine Feststellung, die man auch aus
gehöriger Entfernung an uns hätte machen
können. Wir verfügten daher über eine her-
kulische Unternehmungslust. Da sich uns aber
augenblicklich kein anderes Betätigungsfeld als
die Gesellschaft oder der Punsch bot, so ent-
schieden wir uns rasch entschlossen für den
letzteren und erstritten aufsehenerregende Re-
korde auf diesem Gebiet.
Da kam die feierliche Handlung des Blei-
gießens an unsere Reihe, und ich goß —
darüber war man sich schnell einig — den
„Trompeter von Säckingen". Einer hatte ihn
aus seiner fragwürdigen Gestaltung heraus-
gedeutet und alle übrigen waren plötzlich mit
einem Sturme der Begeisterung derselben Mei-
nung. Es war nichts daran zu ändern.
Nun bedeutete aber für mich der Trompeter
von Säckingen von je soviel wie für einen
Gartenwirtschaftspächter ein Wolkenbruch oder
für einen Monarchisten der neunte November.
Ich hatte in meinem zwölften Lebensjahre
einem jener schmutzigen Italiener, die mit be-
malten Gipsfiguren hausierten, mit dem Blas-
rohr seinen Trompeter vom Thron geblasen,
daß er in Scherben ging und mein Vater für
den angerichteten Schaden aufkommen mußte.
Er war sehr, sehr hoch. „Damit du an den
Trompeter von Säckingen dein Leben lang
denkst," grollte mein Vater vergeltungswütig,
indem er einen Spazierstock an mir entzwei
schlug, der ein Erbstück vom Großvater war
und angeblich von irgendeinem Baume mit
Flusse Jordan in Palästina stammen sollte.
Der Fluß Jordan in Palästina, an dessen
Ufern solche Produkte gediehen, und der Trom-
peter von Säckingen blieben von da ab für
mich Gegenstände meines grimmigsten Hasses.
Dies alles wußte mein Freund August bis
in die letzten ausführlichsten Einzelheiten tmd
versäumte nicht, es allen Anwesenden zu er-
zählen.
Unterdessen waren mir fünf Liter Punsch
zur Beute gefallen, als ich beim Anbruch des
sechsten dem schreckensbleichen Angesicht der
gnädigen Frau unseres Gastgebers begegnete.
Schon während der Erzählung meines Freun-
des August war mir die sichtlich zunehmende
Nervosität der gnädigen Frau ausgefallen.
Jetzt heftete sie wie gelähmt von erstarrend
machender Angst ihren Blick an ein hochange-
brachtes Wandbrett. Ich folge ihm mit gie-
rigem Mißtrauen und — ha! — was muß ich
dort entdecken: auf dem Wandbrett thront
Der Pelzmantel
Dunkel war's, der Mond schien helle, als Nepomuk
Brindöpke mit seiner Frau Mariechen wildern ging.
In des Waldes tiefsten Gründen, hinter Bäumen
wohlverstcckt, lag Nepomuk auf der Lauer. Achtung!
Da naht ein Rehbock. — Tschin bum bautz!
Da kommt auch schon der alte Revierförster Schnur-
hahn um die Waldecke. Was tun? sprach der selige
Zeus in solchen Augenblicken, dachte Nepomuk und
legte seinem Mariechen einfach den Rehbock um den
Hals. Und Mariechen zog mit dem neuen Pelzmantel
an dem Förster vorbei.
Man sollte nicht glauben, wie weich und schmack-
haft man so einen Pelzkragen znbcreiten kann.
mit der ganzen Machtgebärde ihrer aufgebläht
dicktuerischen Kitschigkeit die Gipsfigur des
Trompeters von Säckingen! Schreiend grell-
bunt bemalt, stattlich steif auf seinem Sockel
prangend, im Munde die unvergeßbare Trom-
pete, an der ein Banner von violettem Samte
hängt, auf dein in Goldbuchstaben die unver-
gänglich aromatischen Worte: „Behüt' dich
Gott" gestickt sind.
Einen Augenblick lang überwältigte mich
sein Anblick. Der nächste sah mich auf dem
Plan. Ich fuhr wie ein von einen: Vortrag
Rudolf Steiners besessen Gewordener empor
und schleuderte mit zerschmetternder Wucht
mein Glas gegen den Trompeter. Seine stür-
zenden Trümmer zerschlugen die erst frisch ge-
füllte Punschterrine, daß der edle Saft über
Tisch und Perser in breiten Strömen floß. Der
Kopf des Trompeters mit der Fanfare im
Munde war unversehrt geblieben, ja, als wolle
er mich noch in seiner letzten Lebensstunde zuni
Äußersten aufreizen, wandte er mir, der Mund-
protz, auf einem Scherbenteile im Tode noch
sein hoffärtiges Instrument zu. Und ausge-
rechnet ins Gesicht. Ich zermalmte ihn voll-
ends mit einem geisterhaft durchs Haus dröh-
nenden Stuhlschlag, daß sein Staub nach allen
Windrichtungen spritzte.
Die Gesellschaft saß unfähig, sich zu rühren.
Sie saß wie in eine expressionistische Denkmal-
gruppe versteinert. Nur ihre Haare bewegten
sich, immer merklicher zu Berge stehend. In
richtiger Erkenntnis der Dinge, die nun kom-
men mußten, hatte sich mein Freund August
rechtzeitig auf einen Kronleuchter gerettet, unr
von dieser Höhe aus durch ein Zeißglas die
folgenden Ereignisse zu betrachten.
Endlich erhoben sich die Kavaliere wie au
Drähten gezogen von ihren Sitzen. Jetzt laufen
alle Schnecken, dachte ich bei mir und erriet
den Zweck ihres einmütigen Handgriffs, der
ihren Gläsern galt. Ich hatte mich nicht ge-
täuscht, die Kavaliere langten aus und warfen
mir die Gläser in flammendem Zorne zu.
120 Gläser schwirrten sausend und zischend
mir entgegen. Der Luftdruck war enorm.
Mit einer Geschicklichkeit und Gewandtheit,
die an Geschwindigkeit meine Lehrmeister so-
gar überbot - ich hatte diese Fingerfertigkeit
den Romanschriftstellerinnen unserer Gegen-
wart abgespäht —, sing ich sämtliche 120 Gläser
nacheinander auf, um sie ebenso rasch auf dem-
selben Wege den Absendern zurückzusendcn.
Die Gläser barsten an den Köpfen. Eine Se-
kunde lang herrschte ohrenbetäubendes Klirren
von Scherben. Die anwesenden Damen fielen
wie auf Kommando in Ohnmacht. Dann sah
ich blutige Köpfe und mit Punsch und Gips-
staub beschmutzte Körper in heilloser Verwir-
rung durcheinander rennen. Bald war die
ganze Zimmereinrichtung auf den Kopf gestellt
und nahm immer mehr die gleiche Färbung
und Klebrigkeit an. Die drei Dutzend Punsch-
näpfe und das übrige immense Inventar von
Gipsfiguren, die bei Ausbruch der Panik in
Stücke gingen, verbanden sich zu einer zähen
Masse, die die Bewegungsfreiheit meiner
Widersacher hemmte und einschränkte. Sie
blieben teils an Möbeln hängen, -teils konn-
ten sie in dem Sumpf, der sich auf dem Boden
bildete, und in dem sie brüllend und zeternd
herumstapften, nicht mehr vorwärts kommen.
Ich zündete mir gelassen eine Zigarette an
und sah, auf einem Tisch stehend, zum Fenster
hinaus. Meine Gleichgültigkeit erregte den er-
bittertsten Unwillen.
Man alarmierte die Feuerwachen, die sani-
tären Hilfsstellen, die Polizei und die Gefäng-
nisse. Und ehe man sich's versah, waren alle
zur Stelle, deutlicher gesagt: wollten alle zur