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Wölfflin, Heinrich
Das Erklären von Kunstwerken — Bibliothek der Kunstgeschichte, Band 1: Leipzig: Seemann, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.55619#0007
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Müssen denn Kunstwerke erklärt werden? Ist
es nicht das Besondere der anschaulichen
Kunst, daß sie sich von selbst erklärt, daß jeder
sie ohne weiteres lesen kann? Sofern es sich frei-
lich um den sachlichen Inhalt handelt, ist die For-
derung ja selbstverständlich. Ein Bild stellt etwas
vor, ein Bau dient einem Zweck, ein Mal hat einen
Sinn; das muß erklärt werden. Aber die Form (von
der hier allein die Rede sein soll), spricht sie nicht
für sich selbst? Um eine japanische Zeichnung zu
verstehen, muß ich nicht japanisch gelernt haben.
Eine Figur des Mittelalters sagt jedem ganz un-
mittelbar etwas, trotz der Jahrhunderte, die uns
von ihr trennen. Ja man wird ein Bildwerk im all-
gemeinen als eine viel bestimmtere Mitteilung emp-
finden als das geschriebene Wort, dem doch in
höherem Grade etwas Vieldeutiges anhaftet. Er
stehe vor einem Abgrund, sagt Schiller gelegent-
lich, wenn er an die Unbestimmtheit des sprach-
lichen Ausdrucks denke.
Zugegeben, daß dem so sei, so ist das Sehen doch
etwas, was gelernt werden muß. Es ist durchaus
nicht natürlich, daß jeder sieht, was da ist. Ein
Bildwerk erklären in dem Sinne, daß das Auge ge-
führt wird, ist daher an sich schon ein notwendiger
Teil kunstgeschichtlicher Unterweisung. Das Wort

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