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IV.

DIE LÄSSIGE SPANNUNG

Winckelmann hat in seine Definition der Antike die „Stille“ mit
aufgenommen. Seitdem haben sich die Anschauungen vom
Wesen der Antike wohl etwas verschoben und man empfindet das
Urteil Winckelmanns als einseitig, aber noch immer ist für den
Nordländer, der sich unvermittelt südlicher Säulenarchitektur und
südlichen Flachgiebeln gegenübergestellt sieht, gleichgültig ob es
sich um Antike handle oder um Renaissance, noch immer ist für ihn
die große Überraschung, wie still diese Bauten dastehn.

Merkwürdig: die Italiener sind viel lebhafter als wir in Wort und
Gebärde, aber der Eindruck einer nordischen Stadt, einer nordischen
Gasse ist lauter. Das kann verschiedene Gründe haben und auf
einige ist schon in den vorausgehenden Kapiteln hingewiesen wor-
den. Was wir hier meinen, ist nicht der „malerische“ Reichtum und
die „malerische“ Bewegtheit, sondern die Stoßkraft in der Form.
Bildhaft gesprochen: nicht die Vibration der bewegten Fläche über-
haupt, sondern die Energie, mit der die einzelne Welle sich hebt. In
der deutschen Form ist mehr Aktion, mehr Spannung.

Nicht als ob die Spannung im Süden fehlte — es gibt keine leben-
dige Form ohne Spannung —, aber die Spannung ist eine lässigere.
Die Säule steigt und trägt ohne Anstrengung, im Emporgehn der
Mauer wird kaum eine Kraftströmung sichtbar und der Eindruck
der Gelassenheit vollendet sich in den ruhig schwebenden Konsolen
eines Kranzgesimses. Alle Proportionen hier haben ein anderes Ver-
hältnis von Höhe und Breite: sie geben sich, auch wenn der Charak-
ter ins Ernste schlägt, als Ausdruck eines ruhig atmenden Daseins.
Das ist im Norden anders. Hier erlebt man die Spannung eines
Krafteinsatzes, dort in einem nicht toten, aber lässig gespannten
Sein die Ruhe der Vollendung.

Die nordische Baukunst, auch wo sie mit dem Vertikalismus der
Gotik gebrochen hat und in „natürlichen“ Verhältnissen sich be-
 
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