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ITALIEN UND WIR
benden in Verkürzung erscheint, beherrscht die Flächenschichtung
durchaus den Gesamteindruck. Das Bild hat an räumlicher Tiefe
nichts preisgegeben, im Gegenteil, aber es ist ruhiger und vor allem
schaubarer geworden. Die Verwandtschaft mit italienischer Bild-
erscheinung ist offenbar und eine unmittelbare Beeinflussung Dürers
durch Italien nicht in Abrede zu stellen.
Nichtsdestoweniger wäre es falsch, das Phänomen aus der bloßen
Nachahmung fremder Vorbilder erklären zu wollen. Es gibt eine
bodenständige Entwicklung im Norden, die in der gleichen Richtung
läuft. Auch Grünewalds Bild der Einsiedler, die sich gegenübersit-
zen (Isenheimer Altar), ist allen ältern Kompositionen dadurch über-
legen, daß die zwei Figuren zum Zusammenschluß in einer Fläche
gebracht sind. Und dieses Flächenprinzip wiederholt sich nicht nur
in der Folge der Landschaftsgründe, sondern bedingt auch die Ein-
zelform der Figuren. Es ist auch hier etwas Neues und kein Resi-
duum altertümlicher Art, wie sich der ausgestreckte Arm des Paulus
in die Bildebene legt, ebenso wie der weisende Zeigefinger des Jo-
hannes auf der Kreuzigung des Isenheimer Altars etwas Neues ist
und eben nur in Beispielen wie der weisenden Engelhand auf Lio-
nardos Felsgrottenmadonna seine Analogie hat, ohne daß jemand
von einer Abhängigkeit hier wird sprechen wollen.
Wenn die deutschen Bilder trotzdem immer noch anders aussehn
als die italienischen, so ist daran die beständige Gegenwirkung von
flächenfeindlichen Motiven schuld. Es widerstrebt der deutschen
Phantasie sich so vollständig der Fläche auszuliefern wie die Ita-
liener es tun. Die Dürerschen Holzschnitte um 1510 haben, wie ge-
sagt, die klassische Reliefhaltung, aber jede Vergleichung lehrt —
und neben den genannten Beispielen steht ja etwa auch die lange
Folge der kleinen Holzschnittpassion zur Verfügung1) —, wie sehr
diese Zeichnungen doch alle mit Elementen durchsetzt sind, die das
Bild nicht zur festen Fläche gerinnen lassen. In viel höherem Grade
aber wehren sich Grünewald und Baidung dagegen. Und darüber
hinaus gibt es auch Fälle, wo das Prinzip ganz auf den Kopf gestellt
ist: Altdorfers Mariengeburt* kann gewiß beim besten Willen nicht
mehr als Bekenntnis zum Reliefstil aufgefaßt werden, im Figürlichen
wie im Architektonisch-Räumlichen ist alles getan, den Begriff der
x) Zu der oben mitgeteilten Verkündigung Schongauers wäre hier die später (S. 197)
folgende Verkündigung Dürers aus der kleinen Holzschnittpassion zu vergleichen.
ITALIEN UND WIR
benden in Verkürzung erscheint, beherrscht die Flächenschichtung
durchaus den Gesamteindruck. Das Bild hat an räumlicher Tiefe
nichts preisgegeben, im Gegenteil, aber es ist ruhiger und vor allem
schaubarer geworden. Die Verwandtschaft mit italienischer Bild-
erscheinung ist offenbar und eine unmittelbare Beeinflussung Dürers
durch Italien nicht in Abrede zu stellen.
Nichtsdestoweniger wäre es falsch, das Phänomen aus der bloßen
Nachahmung fremder Vorbilder erklären zu wollen. Es gibt eine
bodenständige Entwicklung im Norden, die in der gleichen Richtung
läuft. Auch Grünewalds Bild der Einsiedler, die sich gegenübersit-
zen (Isenheimer Altar), ist allen ältern Kompositionen dadurch über-
legen, daß die zwei Figuren zum Zusammenschluß in einer Fläche
gebracht sind. Und dieses Flächenprinzip wiederholt sich nicht nur
in der Folge der Landschaftsgründe, sondern bedingt auch die Ein-
zelform der Figuren. Es ist auch hier etwas Neues und kein Resi-
duum altertümlicher Art, wie sich der ausgestreckte Arm des Paulus
in die Bildebene legt, ebenso wie der weisende Zeigefinger des Jo-
hannes auf der Kreuzigung des Isenheimer Altars etwas Neues ist
und eben nur in Beispielen wie der weisenden Engelhand auf Lio-
nardos Felsgrottenmadonna seine Analogie hat, ohne daß jemand
von einer Abhängigkeit hier wird sprechen wollen.
Wenn die deutschen Bilder trotzdem immer noch anders aussehn
als die italienischen, so ist daran die beständige Gegenwirkung von
flächenfeindlichen Motiven schuld. Es widerstrebt der deutschen
Phantasie sich so vollständig der Fläche auszuliefern wie die Ita-
liener es tun. Die Dürerschen Holzschnitte um 1510 haben, wie ge-
sagt, die klassische Reliefhaltung, aber jede Vergleichung lehrt —
und neben den genannten Beispielen steht ja etwa auch die lange
Folge der kleinen Holzschnittpassion zur Verfügung1) —, wie sehr
diese Zeichnungen doch alle mit Elementen durchsetzt sind, die das
Bild nicht zur festen Fläche gerinnen lassen. In viel höherem Grade
aber wehren sich Grünewald und Baidung dagegen. Und darüber
hinaus gibt es auch Fälle, wo das Prinzip ganz auf den Kopf gestellt
ist: Altdorfers Mariengeburt* kann gewiß beim besten Willen nicht
mehr als Bekenntnis zum Reliefstil aufgefaßt werden, im Figürlichen
wie im Architektonisch-Räumlichen ist alles getan, den Begriff der
x) Zu der oben mitgeteilten Verkündigung Schongauers wäre hier die später (S. 197)
folgende Verkündigung Dürers aus der kleinen Holzschnittpassion zu vergleichen.