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Wölfflin, Heinrich
Gedanken zur Kunstgeschichte: Gedrucktes und Ungedrucktes — Basel, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.27251#0079
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Das Wort Kritik bezieht sich hier nicht auf Echtheitsprobleme und nicht auf
Qualitätsprobleme, sondern ist in dem Sinne gebraucht, wie Kant von einer
Kritik der reinen Vernunft spricht, wo er deren Bloßlegung meint. Kunstwerke
so zu sehn und zu interpretieren, wie es ihrem ursprünglichen Sinne entspricht,
ist zwar scheinbar eine Selbstverständlichkeit, aber jede Nachprüfung wird
zeigen, daß die Forderung leichter gestellt als erfüllt werden kann. Wir erliegen
beständig der Versuchung, aus unserm zeitlich gebundenen Geschmack heraus
zu urteilen und aus unserm Verstand von Darstellung heraus alte Darstellun-
gen zu interpretieren. Von den hier angezogenen Beispielen sind nun freilich
nicht alle neuesten Datums, man hat entschieden Fortschritte gemacht
und es hat sich eine communis opinio in den wesentlichen Punkten gebildet,
aber die begangenen Fehler können noch immer lehrreich sein. Meine frü-
hem Aufsätze in der Zeitsdhrift für bildende Kunst (1894/95 un<^ I9I5)
unter dem Titel «Wie man Skulpturen aufnehmen soll?« sind hier nicht mit-
abgedruckt.

Dagegen wurden zwei Aufsätze angeschlossen über das Rechts und Finks im
Bilde, wovon der erste einer Festschrift für meinen Münchner Kollegen Wolters
(1928) entnommen ist. Das Thema scheint zwar in diesen Zusammenhang nicht
hineinzugehören, aber die Schärfung des Sinnes für die Bedeutung des Rechts
und Finks, mit andern Worten die Frage: ob Bilder umkehrbar sind, nötigt
doch auch zu einer Besinnung auf den künstlerischen Tatbestand, und in dem
zweiten Artikel über Raffaels Teppiche gewinnt das Problem eine unmittelbar
praktische Bedeutung, indem auf das Unzulässige hingewiesen wird, Raffaels
künstlerische Absicht mit den berühmten Kartonzeichnungen gleichzusetzen
(Belvedere 1930).

Endlich kommt noch, in ausführlicherer Darstellung, ein Einzelfall von Inter-
pretation zur Sprache: Dürers Melancholie (Zeitschrift für Kunstwissenschaft
1923). Der springende Punkt ist auch hier, daß die Richtigkeit der Deutung
nicht nur dadurch bedingt ist, das Gedankengut zu kennen, das für Dürer in
Frage stand, sondern daß man sich auch Rechenschaft geben muß, was an
Darstellungsmöglichkeiten um 1514 generell vorhanden war. Nach meiner
Meinung muß ein «Doppelausdruck» - trüb und schöpferisch-, wie er von uns
so gern in Dürer’s Melancholie hineingelegt wird, grundsätzlich ausgeschlossen
bleiben. Sie ist in der Stimmung ganz eindeutig.

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