GEDANKEN ZUR KUNSTGESCHICHTE
gefühl und das Bloß-Relative der Wirkungen gegeneinander zu verrechnen,
aber ein ungefähres Urteil läßt sich trotzdem gewinnen.
ÜBER DAS RECHTS UND LINKS IM BILDE
Paul Wolters zum 70. Geburtstag
Lieber Wolters, Sie haben jede Aufgabe im Leben ernst genommen, auch die
Aufgabe eines Vorsitzenden der Münchner Kunstwissenschaftlichen Gesell-
schaft, als deren Mitglied ich so oft Gelegenheit hatte, Sie zu bewundern: mit
welcher Urbanität Sie das passende Wort zu hnden wußten, eine peinliche
Situation zu überwinden, ein Verdienst ins Licht zu stellen, drohender Saum-
seligkeit zu wehren. Und als ich bei meinem Abgang von München meinen
letzten Vortrag in der Gesellschaft hielt, da sind wieder Sie es gewesen, der mit
ein paar freundlichen Sätzen mir den Abschied bot. Ich benütze den heutigen
Anlaß, Ihnen dafür zu danken, indem ich gerade auf jenen Vortrag zurück-
greife und Ihnen diese kurzen Betrachtungen über das Rechts und Links im
Bilde widme, die, leider seither kaum weiter gefördert, mir doch ein wichtiges
Problem der Kunst zu enthalten scheinen.
Man kann es im kunstgeschichtlichen Unterricht, wo mit Diapositiven gear-
beitet wird, manchmal erleben, daß eine Platte, falsch eingestellt, das Bild im
Gegensinn erscheinen läßt. Da gibts dann gewöhnlich einen ärgerlichen Zwi-
schenruf: «Umdrehn! Die Platte ist verkehrt eingestellt!», aber man dürfte sich
auch einmal besinnen, warum denn das Bild nicht umgekehrt werden kann
und was sich in der Wirkung ändert. Daß die rechten Hände zu linken werden,
ist schließlich etwas Nebensächliches, aber es ist in der Tat so, daß selbst schein-
bar reine Symmetrien wie Raffaels Sixtinische Madonna oder Holbeins
Marienbild in Darmstadt die Umkehrung nicht ertragen.
1. Untersuchen wir den Lall bei Raffael. In der richtigen Ansicht steigen wir
mit dem emporgewendeten Blick des Sixtus von links nach der Höhe der Ma-
donna hinauf, und die heilige Barbara, die Kopf und Auge senkt, führt uns auf
cler andern Seite wieder nach unten. Ich sage nicht, daß man nur diese Bewe-
gung ausführt, aber man hat entschieden die Neigung, im Sinn der Darstellung
von links nach rechts emporzugehen und auf der entgegengesetzten Schräglinie
niederzugleiten. Sobald das Bild im Gegensinn gesehen wird und also die Rich-
tungen sich umkehren, verzerrt sich die Erscheinung: die Motive wirken zusam-
menhanglos und laufen «gegen den Strich». Statt des schwungvollen Aufstiegs
bei Sixtus, wenn er links kniet, emphnden wir jetzt nur ein schweres Einsacken,
82
gefühl und das Bloß-Relative der Wirkungen gegeneinander zu verrechnen,
aber ein ungefähres Urteil läßt sich trotzdem gewinnen.
ÜBER DAS RECHTS UND LINKS IM BILDE
Paul Wolters zum 70. Geburtstag
Lieber Wolters, Sie haben jede Aufgabe im Leben ernst genommen, auch die
Aufgabe eines Vorsitzenden der Münchner Kunstwissenschaftlichen Gesell-
schaft, als deren Mitglied ich so oft Gelegenheit hatte, Sie zu bewundern: mit
welcher Urbanität Sie das passende Wort zu hnden wußten, eine peinliche
Situation zu überwinden, ein Verdienst ins Licht zu stellen, drohender Saum-
seligkeit zu wehren. Und als ich bei meinem Abgang von München meinen
letzten Vortrag in der Gesellschaft hielt, da sind wieder Sie es gewesen, der mit
ein paar freundlichen Sätzen mir den Abschied bot. Ich benütze den heutigen
Anlaß, Ihnen dafür zu danken, indem ich gerade auf jenen Vortrag zurück-
greife und Ihnen diese kurzen Betrachtungen über das Rechts und Links im
Bilde widme, die, leider seither kaum weiter gefördert, mir doch ein wichtiges
Problem der Kunst zu enthalten scheinen.
Man kann es im kunstgeschichtlichen Unterricht, wo mit Diapositiven gear-
beitet wird, manchmal erleben, daß eine Platte, falsch eingestellt, das Bild im
Gegensinn erscheinen läßt. Da gibts dann gewöhnlich einen ärgerlichen Zwi-
schenruf: «Umdrehn! Die Platte ist verkehrt eingestellt!», aber man dürfte sich
auch einmal besinnen, warum denn das Bild nicht umgekehrt werden kann
und was sich in der Wirkung ändert. Daß die rechten Hände zu linken werden,
ist schließlich etwas Nebensächliches, aber es ist in der Tat so, daß selbst schein-
bar reine Symmetrien wie Raffaels Sixtinische Madonna oder Holbeins
Marienbild in Darmstadt die Umkehrung nicht ertragen.
1. Untersuchen wir den Lall bei Raffael. In der richtigen Ansicht steigen wir
mit dem emporgewendeten Blick des Sixtus von links nach der Höhe der Ma-
donna hinauf, und die heilige Barbara, die Kopf und Auge senkt, führt uns auf
cler andern Seite wieder nach unten. Ich sage nicht, daß man nur diese Bewe-
gung ausführt, aber man hat entschieden die Neigung, im Sinn der Darstellung
von links nach rechts emporzugehen und auf der entgegengesetzten Schräglinie
niederzugleiten. Sobald das Bild im Gegensinn gesehen wird und also die Rich-
tungen sich umkehren, verzerrt sich die Erscheinung: die Motive wirken zusam-
menhanglos und laufen «gegen den Strich». Statt des schwungvollen Aufstiegs
bei Sixtus, wenn er links kniet, emphnden wir jetzt nur ein schweres Einsacken,
82