ZUR EINLEITUNG
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Vorurteil der Zeit, der das Wesen der Dinge in gewissen Maßen befaßt erschien, aber
es ist zweifellos, daß für das germanische Gefühl die Proportion nie die Bedeutung ge-
habt hat wie für das italienische. Es ist eine italienische Vorstellung, daß die Kunst
die ,,Reinheit“ der Proportionen zu suchen habe. Für uns hat dieser Begriff, soviel da-
von geredet worden ist, wenig Lebendiges. Unsere Empfindung wird erregt durch das,
was geschieht, nicht durch das, was als ruhende Form da ist. Der Charakter der deut-
schen Architektur in allen Zeiten ist wesentlich bedingt durch den Eindruck einer be-
stimmten Bewegung, nicht durch feste Proportionen. Und so ist die Figur von der
deutschen Kunst immer mehr von der dynamischen Seite her aufgefaßt worden, als
daß man auf die Schönheit bestimmter Maßverhältnisse die Wirkung abgestellt hätte.
Dürer hat hierüber offenbar anders gedacht, denn wenn auch die Angelegenheit der
schönen Proportionen mehr und mehr aus der Praxis des Künstlers herausgenommen
und einer rein theoretischen Behandlung in Büchern überwiesen wird, so war der Ver-
fasser dieser Bücher ,,von menschlicher Proportion“ doch überzeugt, damit wieder dem
Leben zu dienen, d. h. zu Nutz und Frommen einer künftigen deutschen Kunst gearbeitet
zu haben. Die Geschichte hat diese Erwartung freilich bisher nicht bestätigt.
Nach so vielen und bedeutsamen grundsätzlichen Einwendungen wagt man kaum mehr
die Frage zu stellen: kann Dürer von uns als der deutsche Maler gefeiert werden?
Muß man nicht vielmehr endgültig zugestehen, daß hier eine große Begabung sich in
der Nachahmung des Fremden verirrt hat und instinktlos geworden ist? Zweifellos -
es gibt Echtes und Köstliches die Menge bei Dürer, und nicht nur beim jungen Dürer,
aber sein Werk ist durchsetzt mit Dingen, die uns fremd anmuten. Im Schoß der italie-
nischen Verführerin hat Simson seine Locken verloren.
Und doch kann man den Fall auch anders ansehen. Dürer mag im einzelnen hundert-
mal unrecht haben und im Vergleich mit den andern Deutschen den kürzeren ziehn,
es ist doch möglich, daß das Anstößige nur auf der Oberfläche liegt, daß es mehr die
Kunstmittel sind, die wir kritisieren, und daß jener Drang nach Italien aus einer voll-
kommen gesunden Stimmung hervorgegangen ist, auch wenn Dürer in der Art, wie er
seine Sehnsucht befriedigte, geirrt haben sollte.
Die Proportionen — ja, es ist wahr, daß ein Italiener den Funken in ihm entzündet
hat, aber ist es glaubhaft, daß die Anregung so stürmisch aufgenommen worden wäre,
wenn die Idee nicht geheim in ihm vorhanden gewesen wäre ? Um was handelt es sich
denn? Nicht um ein Geschmäcklertum, das möglichen Reizsteigerungen nachspürt,
sondern um eine Angelegenheit von fast metaphysischer Bedeutung. Alle Dinge haben
ihre bestimmten Maße, die menschliche Proportion ist nur ein Sonderfall, allerdings der
für uns interessanteste. Es gilt die Formen wiederzufinden, die Gott gewollt hat und
die in der Welt verdorben sind. Und nun ruft Dürer dem Künstler zu: Du bist der Be-
rufene, die ursprüngliche Schönheit der Geschöpfe wiederzufinden ! Was für eine Stellung
gibt er damit der Kunst! Wahrhaftig, sie wird zur Statthalterin Gottes auf Erden.
Gleichgültig, wie Dürer den Mann und das Weib nun tatsächlich konstruiert hat, das
Entscheidende ist das Verlangen nach dem Notwendigen, nach einer Schönheit, vor
2 Wölfflin, Dürer
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Vorurteil der Zeit, der das Wesen der Dinge in gewissen Maßen befaßt erschien, aber
es ist zweifellos, daß für das germanische Gefühl die Proportion nie die Bedeutung ge-
habt hat wie für das italienische. Es ist eine italienische Vorstellung, daß die Kunst
die ,,Reinheit“ der Proportionen zu suchen habe. Für uns hat dieser Begriff, soviel da-
von geredet worden ist, wenig Lebendiges. Unsere Empfindung wird erregt durch das,
was geschieht, nicht durch das, was als ruhende Form da ist. Der Charakter der deut-
schen Architektur in allen Zeiten ist wesentlich bedingt durch den Eindruck einer be-
stimmten Bewegung, nicht durch feste Proportionen. Und so ist die Figur von der
deutschen Kunst immer mehr von der dynamischen Seite her aufgefaßt worden, als
daß man auf die Schönheit bestimmter Maßverhältnisse die Wirkung abgestellt hätte.
Dürer hat hierüber offenbar anders gedacht, denn wenn auch die Angelegenheit der
schönen Proportionen mehr und mehr aus der Praxis des Künstlers herausgenommen
und einer rein theoretischen Behandlung in Büchern überwiesen wird, so war der Ver-
fasser dieser Bücher ,,von menschlicher Proportion“ doch überzeugt, damit wieder dem
Leben zu dienen, d. h. zu Nutz und Frommen einer künftigen deutschen Kunst gearbeitet
zu haben. Die Geschichte hat diese Erwartung freilich bisher nicht bestätigt.
Nach so vielen und bedeutsamen grundsätzlichen Einwendungen wagt man kaum mehr
die Frage zu stellen: kann Dürer von uns als der deutsche Maler gefeiert werden?
Muß man nicht vielmehr endgültig zugestehen, daß hier eine große Begabung sich in
der Nachahmung des Fremden verirrt hat und instinktlos geworden ist? Zweifellos -
es gibt Echtes und Köstliches die Menge bei Dürer, und nicht nur beim jungen Dürer,
aber sein Werk ist durchsetzt mit Dingen, die uns fremd anmuten. Im Schoß der italie-
nischen Verführerin hat Simson seine Locken verloren.
Und doch kann man den Fall auch anders ansehen. Dürer mag im einzelnen hundert-
mal unrecht haben und im Vergleich mit den andern Deutschen den kürzeren ziehn,
es ist doch möglich, daß das Anstößige nur auf der Oberfläche liegt, daß es mehr die
Kunstmittel sind, die wir kritisieren, und daß jener Drang nach Italien aus einer voll-
kommen gesunden Stimmung hervorgegangen ist, auch wenn Dürer in der Art, wie er
seine Sehnsucht befriedigte, geirrt haben sollte.
Die Proportionen — ja, es ist wahr, daß ein Italiener den Funken in ihm entzündet
hat, aber ist es glaubhaft, daß die Anregung so stürmisch aufgenommen worden wäre,
wenn die Idee nicht geheim in ihm vorhanden gewesen wäre ? Um was handelt es sich
denn? Nicht um ein Geschmäcklertum, das möglichen Reizsteigerungen nachspürt,
sondern um eine Angelegenheit von fast metaphysischer Bedeutung. Alle Dinge haben
ihre bestimmten Maße, die menschliche Proportion ist nur ein Sonderfall, allerdings der
für uns interessanteste. Es gilt die Formen wiederzufinden, die Gott gewollt hat und
die in der Welt verdorben sind. Und nun ruft Dürer dem Künstler zu: Du bist der Be-
rufene, die ursprüngliche Schönheit der Geschöpfe wiederzufinden ! Was für eine Stellung
gibt er damit der Kunst! Wahrhaftig, sie wird zur Statthalterin Gottes auf Erden.
Gleichgültig, wie Dürer den Mann und das Weib nun tatsächlich konstruiert hat, das
Entscheidende ist das Verlangen nach dem Notwendigen, nach einer Schönheit, vor
2 Wölfflin, Dürer