GRUNDLAGEN UND ANFÄNGE
51
zeigt die Zeichnung doch noch bedeutende Eigenschaften. Die Figur ist ausdrucksvoll,
und die plastisch reiche Behandlung des Raumes wie das mannigfaltige Lineament, das
die Form modelliert, sind Dinge, die auch ohne Signatur auf Dürersche Art hinweisen.
Nun liegt es nahe, nach Verwandtem in der damaligen Produktion Basels zu suchen.
Schon ältere Kunstfreunde hatten in den moralischen Geschichten des ,,Ritters vom
Turn“ (1493)1) und Sebastian Brants ,,Narrenschiff“ (1494)2) Dürer als Ulustrator ver-
muten wollen, und dann ist im gleichen Sinne auf eine Sammlung von etwa anderthalb-
hundert, zum Teil noch ungeschnittenen Holzzeichnungen hingewiesen worden, die
für eine Terenzausgabe bestimmt waren und in einem ähnlichen Stil gemacht sind3).
Ob wir es mit einer einzigen Hand oder mit der Arbeit einer mehrköpfigen Werkstatt
zu tun hätten, darüber gingen die Meinungen auseinander, in der Hauptsache aber
schien es doch eine Persönlichkeit gewesen zu sein, die hinter dieser Arbeit stand. Der
Unterschied zu älteren Basler Drucken ist beträchtlich. Ist Dürer diese Persönlichkeit
gewesen? Die ganze Gruppe von Zeichnungen ist in Dürers Werk tatsächlich mit ge-
wissen Motiven verzahnt, so daß eine Beziehung außer Frage steht; dennoch glaube
ich, daß solche vereinzelte Übereinstimmungen nicht als Beweis für seine Autorschaft
geltend gemacht werden dürfen.
Unmittelbar überzeugend wirkt die große Zeichnung einer heiligen Familie (L.-W. 615,
W. 30) in Berlin. Sie wird um 1492—93 anzusetzen sein. Maria mit dem Kinde auf
einer Rasenbank, daneben Joseph, schlafend, mit aufgestütztem Kopf. Sie hält gotisch-
spitz eine Nelke. Reiche, aber in der thematischen Erfindung noch wenig interessante
Gewandung. Die Figur muß mit Schongauers Marienbildchen in Wien verglichen werden,
sie ist aus einer ganz ähnlichen Stimmung hervorgegangen. Doch sagt Dürer schon
deutlich, daß er ein anderer sei, und die bloße Landschaft mit ihrer Raumtiefe und Fülle
geht über alle Möglichkeiten Schongauerscher Kunst hinaus4).
Aber nun möchte man mehr sehen als solche Variationen herkömmlicher Schemata:
die durchschlagenden Äußerungen des jugendlichen Genius; daß er Dinge sagt, die noch
nie gesagt worden sind, daß man vom Gewöhnlichsten einen Eindruck bekommt, als
ob man etwa Neues sähe.
Das Erlanger Selbstporträt ist eine solche Äußerung gewesen, ein unerwartetes Auf-
leuchten momentanen Ausdrucks. Verwandt damit ist ein weiblicher stehender Akt aus
der Sammlung Bonnat in Paris (L. 345, Wö. 3), datiert 1493, vielleicht in Basel ent-
standen. Ein Natureindruck, rasch mit der Feder fixiert: die Zeichnung ohne schön-
schreiberische Ängstlichkeit, mit vielen verschiedenartigen Strichen der gefühlten Form
nachtastend; trotz aller Unvollkommenheit zwingend in der Wirkung des Gesamt-
motivs. Die Zeichnung der beiden jungen Reiter in München (L.-W. 609, W. 53) ge-
hört auch hierher. Erst der vordere Reiter hingeschrieben, dann rückwärts anschließend
der Jüngling zu Pferde hinzuskizziert, überraschend in der glücklichen Erfassung mo-
mentaner Bewegungen.
Warum es nicht mehr dergleichen Naturstudien gibt? Wenn man alles zusammen-
nimmt — von den Landschaften wird später die Rede sein —: es bleibt immer noch eine
51
zeigt die Zeichnung doch noch bedeutende Eigenschaften. Die Figur ist ausdrucksvoll,
und die plastisch reiche Behandlung des Raumes wie das mannigfaltige Lineament, das
die Form modelliert, sind Dinge, die auch ohne Signatur auf Dürersche Art hinweisen.
Nun liegt es nahe, nach Verwandtem in der damaligen Produktion Basels zu suchen.
Schon ältere Kunstfreunde hatten in den moralischen Geschichten des ,,Ritters vom
Turn“ (1493)1) und Sebastian Brants ,,Narrenschiff“ (1494)2) Dürer als Ulustrator ver-
muten wollen, und dann ist im gleichen Sinne auf eine Sammlung von etwa anderthalb-
hundert, zum Teil noch ungeschnittenen Holzzeichnungen hingewiesen worden, die
für eine Terenzausgabe bestimmt waren und in einem ähnlichen Stil gemacht sind3).
Ob wir es mit einer einzigen Hand oder mit der Arbeit einer mehrköpfigen Werkstatt
zu tun hätten, darüber gingen die Meinungen auseinander, in der Hauptsache aber
schien es doch eine Persönlichkeit gewesen zu sein, die hinter dieser Arbeit stand. Der
Unterschied zu älteren Basler Drucken ist beträchtlich. Ist Dürer diese Persönlichkeit
gewesen? Die ganze Gruppe von Zeichnungen ist in Dürers Werk tatsächlich mit ge-
wissen Motiven verzahnt, so daß eine Beziehung außer Frage steht; dennoch glaube
ich, daß solche vereinzelte Übereinstimmungen nicht als Beweis für seine Autorschaft
geltend gemacht werden dürfen.
Unmittelbar überzeugend wirkt die große Zeichnung einer heiligen Familie (L.-W. 615,
W. 30) in Berlin. Sie wird um 1492—93 anzusetzen sein. Maria mit dem Kinde auf
einer Rasenbank, daneben Joseph, schlafend, mit aufgestütztem Kopf. Sie hält gotisch-
spitz eine Nelke. Reiche, aber in der thematischen Erfindung noch wenig interessante
Gewandung. Die Figur muß mit Schongauers Marienbildchen in Wien verglichen werden,
sie ist aus einer ganz ähnlichen Stimmung hervorgegangen. Doch sagt Dürer schon
deutlich, daß er ein anderer sei, und die bloße Landschaft mit ihrer Raumtiefe und Fülle
geht über alle Möglichkeiten Schongauerscher Kunst hinaus4).
Aber nun möchte man mehr sehen als solche Variationen herkömmlicher Schemata:
die durchschlagenden Äußerungen des jugendlichen Genius; daß er Dinge sagt, die noch
nie gesagt worden sind, daß man vom Gewöhnlichsten einen Eindruck bekommt, als
ob man etwa Neues sähe.
Das Erlanger Selbstporträt ist eine solche Äußerung gewesen, ein unerwartetes Auf-
leuchten momentanen Ausdrucks. Verwandt damit ist ein weiblicher stehender Akt aus
der Sammlung Bonnat in Paris (L. 345, Wö. 3), datiert 1493, vielleicht in Basel ent-
standen. Ein Natureindruck, rasch mit der Feder fixiert: die Zeichnung ohne schön-
schreiberische Ängstlichkeit, mit vielen verschiedenartigen Strichen der gefühlten Form
nachtastend; trotz aller Unvollkommenheit zwingend in der Wirkung des Gesamt-
motivs. Die Zeichnung der beiden jungen Reiter in München (L.-W. 609, W. 53) ge-
hört auch hierher. Erst der vordere Reiter hingeschrieben, dann rückwärts anschließend
der Jüngling zu Pferde hinzuskizziert, überraschend in der glücklichen Erfassung mo-
mentaner Bewegungen.
Warum es nicht mehr dergleichen Naturstudien gibt? Wenn man alles zusammen-
nimmt — von den Landschaften wird später die Rede sein —: es bleibt immer noch eine