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DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
sende, der für alles ein Auge hat. Der Mensch bleibt freilich die Hauptsache. Er saugt
sich an das Individuelle mit frisch belebtem Interesse an, offenbar hat der Einzelfall
prinzipiell einen neuen Wert für ihn gewonnen. Ob es nur Zufall ist, daß auf dem
Querformat des Skizzenbuches so oft zwei Köpfe nebeneinander erscheinen? Oder ist
es nicht vielmehr jetzt überall auf physiognomische Parallelen abgesehen? Zu an-
deren Malen ist das Format der Anlaß zu sehr originellen Raumkombinationen ge-
worden, indem erst ein Kopf, dann ein Raumbild skizziert wurde, wovon die beige-
druckte Abbildung eine Probe gibt (L. 338, W. 769). Was würde man sagen, wenn
Dürer so etwas gemalt hätte? Ein Kopf in Querformat, seitlich verschoben und gegen
einen tiefer liegenden Architekturgrund gesehen1)!
Dürer war nicht nach den Niederlanden gekommen, um als Maler Geld zu verdienen,
er nahm an Arbeit, was ihm die Gelegenheit des Tages brachte, in der Hauptmasse
sind es Porträtzeichnungen in Kohle oder Kreide auf großen Bogen; gemalte Bild-
nisse sind schon selten, und ganz vereinzelt nur hört man von anderen Malereien2).
jedenfalls war er gar nicht für größere Arbeiten eingerichtet, das Tagebuch spricht
von ,,Veronica-Angesichten“, die er gemalt habe (d. h. Christus als Schmerzensk:pf)
und einmal auch von einem Hieronymus, auf den er viel Fleiß verwendet haben will
und den er einem Portugiesen geschenkt hat. Im Anfang dieses Jahrhunderts ist das
Bild in Lissabon wieder aufgefunden worden3). Es ist eine lebensgroße Halbfigur, der
alte heilige Mann mit aufgestütztem Kopf am Studiertisch sitzend, den Finger auf
einem Totenschädel. Möglich, daß sich Dürer in der Bildform niederländischer Ge-
wohnheit anschloß, doch überbot er sie an geistiger Konzentration4). Die Zeichnungen
zu dem Bilde sind in merkwürdiger Vollständigkeit erhalten5). Ganz überwältigend
wirkt die große Pinselzeichnung der Albertina (L. 568, W. 65), die den gleichen Kopf
in einer etwas abweichenden Stellung gibt. In diesem Blatte liegt so viel Größe und
so viel Schlichtheit, so viel Hingabe an das Kleinwerk der bildenden Natur und so viel
Kraft des zusammenfassenden Sehens, daß man wohl von dem Beginn eines neuen
Stiles bei Dürer sprechen darf6).
Man meint, mit fünfzig Jahren müßte er notwendig seine Formeln sich ausgebildet
haben, die Abkürzungen, die das enthielten, was ihm in der Natur interessant war;
andere haben es so gemacht, allein für Dürers Auge wurde die Erscheinung immer
reicher, und er mußte immer mehr in die Zeichnung aufnehmen, wenn er ehrlich
bleiben wollte. Mit völlig ungeschwächten Sinnen, als ob er frisch anfinge, macht er
seine neuen Entdeckungen im Reiche der Form. Die Linie der Mundspalte, die Fälte-
lungen der Lippe — nie ist er diesen Dingen mit ähnlicher Sorgfalt nachgegangen wie
jetzt.
Das lineare Sehen erweicht sich wieder zu einem mehr malerischen, tonigen Sehen.
Die Hand des Hieronymus ist wesentlich anders gezeichnet als die Apostelhände
vom Heller-Altar, mehr in hellen und dunklen Flächen gesehen. Und gleichzeitig
erwacht eine neue Empfindlichkeit für die Tonwerte in der Zeichnung. Die Schatten,
deren Dunkelmaß der Kohle- oder Kreidestift bisher ziemlich willkürlich bestimmt
DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
sende, der für alles ein Auge hat. Der Mensch bleibt freilich die Hauptsache. Er saugt
sich an das Individuelle mit frisch belebtem Interesse an, offenbar hat der Einzelfall
prinzipiell einen neuen Wert für ihn gewonnen. Ob es nur Zufall ist, daß auf dem
Querformat des Skizzenbuches so oft zwei Köpfe nebeneinander erscheinen? Oder ist
es nicht vielmehr jetzt überall auf physiognomische Parallelen abgesehen? Zu an-
deren Malen ist das Format der Anlaß zu sehr originellen Raumkombinationen ge-
worden, indem erst ein Kopf, dann ein Raumbild skizziert wurde, wovon die beige-
druckte Abbildung eine Probe gibt (L. 338, W. 769). Was würde man sagen, wenn
Dürer so etwas gemalt hätte? Ein Kopf in Querformat, seitlich verschoben und gegen
einen tiefer liegenden Architekturgrund gesehen1)!
Dürer war nicht nach den Niederlanden gekommen, um als Maler Geld zu verdienen,
er nahm an Arbeit, was ihm die Gelegenheit des Tages brachte, in der Hauptmasse
sind es Porträtzeichnungen in Kohle oder Kreide auf großen Bogen; gemalte Bild-
nisse sind schon selten, und ganz vereinzelt nur hört man von anderen Malereien2).
jedenfalls war er gar nicht für größere Arbeiten eingerichtet, das Tagebuch spricht
von ,,Veronica-Angesichten“, die er gemalt habe (d. h. Christus als Schmerzensk:pf)
und einmal auch von einem Hieronymus, auf den er viel Fleiß verwendet haben will
und den er einem Portugiesen geschenkt hat. Im Anfang dieses Jahrhunderts ist das
Bild in Lissabon wieder aufgefunden worden3). Es ist eine lebensgroße Halbfigur, der
alte heilige Mann mit aufgestütztem Kopf am Studiertisch sitzend, den Finger auf
einem Totenschädel. Möglich, daß sich Dürer in der Bildform niederländischer Ge-
wohnheit anschloß, doch überbot er sie an geistiger Konzentration4). Die Zeichnungen
zu dem Bilde sind in merkwürdiger Vollständigkeit erhalten5). Ganz überwältigend
wirkt die große Pinselzeichnung der Albertina (L. 568, W. 65), die den gleichen Kopf
in einer etwas abweichenden Stellung gibt. In diesem Blatte liegt so viel Größe und
so viel Schlichtheit, so viel Hingabe an das Kleinwerk der bildenden Natur und so viel
Kraft des zusammenfassenden Sehens, daß man wohl von dem Beginn eines neuen
Stiles bei Dürer sprechen darf6).
Man meint, mit fünfzig Jahren müßte er notwendig seine Formeln sich ausgebildet
haben, die Abkürzungen, die das enthielten, was ihm in der Natur interessant war;
andere haben es so gemacht, allein für Dürers Auge wurde die Erscheinung immer
reicher, und er mußte immer mehr in die Zeichnung aufnehmen, wenn er ehrlich
bleiben wollte. Mit völlig ungeschwächten Sinnen, als ob er frisch anfinge, macht er
seine neuen Entdeckungen im Reiche der Form. Die Linie der Mundspalte, die Fälte-
lungen der Lippe — nie ist er diesen Dingen mit ähnlicher Sorgfalt nachgegangen wie
jetzt.
Das lineare Sehen erweicht sich wieder zu einem mehr malerischen, tonigen Sehen.
Die Hand des Hieronymus ist wesentlich anders gezeichnet als die Apostelhände
vom Heller-Altar, mehr in hellen und dunklen Flächen gesehen. Und gleichzeitig
erwacht eine neue Empfindlichkeit für die Tonwerte in der Zeichnung. Die Schatten,
deren Dunkelmaß der Kohle- oder Kreidestift bisher ziemlich willkürlich bestimmt