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DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
den Eindruck lebendiger zu machen; nicht gleichmäßig, nicht überall, aber hier z. B.
sehr deutlich in den Brauen und den Rändern der Lidspalte. Die Vorzeichnung legi-
timiert nicht den großen Schwung, mit dem die Braue über dem rechten Auge (des
Stiches) in die Höhe geht, und der Verlauf der Linie ebendort vom Tränenwinkel auf-
wärts ist ein ganz anderer. Endlich wird man den Anlaß gern benutzen, um einmal
in concreto zu kontrollieren, welche Anordnung der freien Formen die künstlerische
Regie über die Modellzeichnung hinaus vorzunehmen für gut fand: wie die Linie der
hochgeknöpften Mützenklappe in die Stirn herunterdrückt, wie die Mütze am Ge-
sichtsrande tiefer herabkommt (bis in Augenhöhe), wie der Bart breiter an die Locken
sich anschließt, der Pelzrock höher hinaufgenommen ist usf. Das köstliche Rauchwerk
findet in dem starr und spröd behandelten Inschriftfeld einen wirksamen Gegensatz.
Siehe die Abbildungen.
Als Probe des Porträtstichs erster Qualität könnte dieser Kurfürst genügen, und eine
weitere Abbildung wäre entbehrlich, allein der Freund Pirkheimer soll doch nicht
fehlen und nicht nur, weil er Dürers bester Freund war: hier ist das Lehrreiche der
Vergleich mit der Zeichnung von 1503 (siehe oben S. 1564)). Wie gewaltig die Summe
von Ausdruck in die Höhe gegangen ist! Selbstverständlich, das eine ist eine rasche
Zeichnung und der Stich eine ganz durchgeführte Arbeit, und der Kopf selbst ist in
den zwanzig Jahren besser geworden — davon spreche ich nicht; aber es gibt Unter-
schiede, die aus der vollkommneren Art von Dürers Kunst sich herleiten. Die ein-
geschlagene Nase, die das Frühporträt so recht deutlich heraushebt, dient dem tri-
vialen Begriff von Kenntlichkeit, im Stich tritt sie hinter den höheren Ausdrucks-
faktoren ganz zurück. Dafür spricht der Mund mit den Lippen der reifsten Dürerschen
Zeichnung, in denen alle Geister lebendig geworden sind, und die bedeutungsvollen
Augen spielen eine so große Rolle im Gesicht, daß man annehmen muß, auch hier
habe Dürer eine ideale Rechnung walten lassen und sie mehr nach Maßgabe ihres
Wertes als ihrer wirklichen Größe charakterisiert.
Es sind lauter gute persönliche Bekannte, denen Dürer seine Stechkunst zur Ver-
fügung stellt. Auch Melanchthon (1526, B. 105) darf wohl noch diesem Kreis zu-
gezählt werden. Er hatte zwar den Ruf als Rektor des Gymnasiums in Nürnberg ab-
gelehnt, war aber im November 1525 und ebenso im Frühjahr 1526 in Nürnberg, wo
er am 23. Mai das Gymnasium mit einer Festrede einweihte. Dürer hat den etwas
ungepflegten Philologen mit der schönen Stirn und dem seelenguten, leuchtenden
Auge gewiß mit herzlicher Sympathie gezeichnet. Immerhin ist es eine flüchtigere
Arbeit, und der merkwürdige Hintergrund mit unruhig-ungleichen Horizontal-
linien ist vielleicht eben deswegen beliebt worden, um gewisse Unebenheiten zu über-
tönen.
Der einzige Mensch, bei dem Dürer notorisch als Porträtist Schiffbruch litt, war
Erasmus. Er hat ihn in Antwerpen zweimal zu zeichnen versucht und es ging nicht1),
und nun hatte er die unglückliche Schwäche, der Eitelkeit des Modells nachzugeben
und nach soundso viel Jahren den Mann noch in Kupfer stechen zu wollen. Es ist
DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
den Eindruck lebendiger zu machen; nicht gleichmäßig, nicht überall, aber hier z. B.
sehr deutlich in den Brauen und den Rändern der Lidspalte. Die Vorzeichnung legi-
timiert nicht den großen Schwung, mit dem die Braue über dem rechten Auge (des
Stiches) in die Höhe geht, und der Verlauf der Linie ebendort vom Tränenwinkel auf-
wärts ist ein ganz anderer. Endlich wird man den Anlaß gern benutzen, um einmal
in concreto zu kontrollieren, welche Anordnung der freien Formen die künstlerische
Regie über die Modellzeichnung hinaus vorzunehmen für gut fand: wie die Linie der
hochgeknöpften Mützenklappe in die Stirn herunterdrückt, wie die Mütze am Ge-
sichtsrande tiefer herabkommt (bis in Augenhöhe), wie der Bart breiter an die Locken
sich anschließt, der Pelzrock höher hinaufgenommen ist usf. Das köstliche Rauchwerk
findet in dem starr und spröd behandelten Inschriftfeld einen wirksamen Gegensatz.
Siehe die Abbildungen.
Als Probe des Porträtstichs erster Qualität könnte dieser Kurfürst genügen, und eine
weitere Abbildung wäre entbehrlich, allein der Freund Pirkheimer soll doch nicht
fehlen und nicht nur, weil er Dürers bester Freund war: hier ist das Lehrreiche der
Vergleich mit der Zeichnung von 1503 (siehe oben S. 1564)). Wie gewaltig die Summe
von Ausdruck in die Höhe gegangen ist! Selbstverständlich, das eine ist eine rasche
Zeichnung und der Stich eine ganz durchgeführte Arbeit, und der Kopf selbst ist in
den zwanzig Jahren besser geworden — davon spreche ich nicht; aber es gibt Unter-
schiede, die aus der vollkommneren Art von Dürers Kunst sich herleiten. Die ein-
geschlagene Nase, die das Frühporträt so recht deutlich heraushebt, dient dem tri-
vialen Begriff von Kenntlichkeit, im Stich tritt sie hinter den höheren Ausdrucks-
faktoren ganz zurück. Dafür spricht der Mund mit den Lippen der reifsten Dürerschen
Zeichnung, in denen alle Geister lebendig geworden sind, und die bedeutungsvollen
Augen spielen eine so große Rolle im Gesicht, daß man annehmen muß, auch hier
habe Dürer eine ideale Rechnung walten lassen und sie mehr nach Maßgabe ihres
Wertes als ihrer wirklichen Größe charakterisiert.
Es sind lauter gute persönliche Bekannte, denen Dürer seine Stechkunst zur Ver-
fügung stellt. Auch Melanchthon (1526, B. 105) darf wohl noch diesem Kreis zu-
gezählt werden. Er hatte zwar den Ruf als Rektor des Gymnasiums in Nürnberg ab-
gelehnt, war aber im November 1525 und ebenso im Frühjahr 1526 in Nürnberg, wo
er am 23. Mai das Gymnasium mit einer Festrede einweihte. Dürer hat den etwas
ungepflegten Philologen mit der schönen Stirn und dem seelenguten, leuchtenden
Auge gewiß mit herzlicher Sympathie gezeichnet. Immerhin ist es eine flüchtigere
Arbeit, und der merkwürdige Hintergrund mit unruhig-ungleichen Horizontal-
linien ist vielleicht eben deswegen beliebt worden, um gewisse Unebenheiten zu über-
tönen.
Der einzige Mensch, bei dem Dürer notorisch als Porträtist Schiffbruch litt, war
Erasmus. Er hat ihn in Antwerpen zweimal zu zeichnen versucht und es ging nicht1),
und nun hatte er die unglückliche Schwäche, der Eitelkeit des Modells nachzugeben
und nach soundso viel Jahren den Mann noch in Kupfer stechen zu wollen. Es ist