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DIE KUNSTALBRECHTDÜRERS

Methoden werden im ersten Buch fünf verschiedene Typen aufgestellt, die, weit aus-
einanderliegend, auch die Extreme des ganz Dicken und des ganz Dünnen umfassen,
und im zweiten Buch (nach der anderen Messung) nochmal acht Männer und zehn
Frauen, die nur teilweise mit denen der ersten Reihe identisch sind. Jeder möge nun
wählen nach seinem Geschmack. Auch die Extreme gibt Diirer nicht als Karikaturen,
sondern nimmt an, daß sich auch dafür Liebhaber finden könnten, obwohl ihm per-
sönlich das dicke Ende der Reihe jedenfalls eher noch sympathisch war als das diinne.
Auch sollen die hier ausgehobenen Typen nicht die Summe der Möglichkeiten er-
schöpfen, es sind natiirlich ebensogut noch Zwischenstufen äthetisch denkbar, ab-
gesehen von jenen „Verkehrungen“, die zu dem bloß Charakteristischen hiniiber-
fiihren.
Das Prinzip bei allen Konstruktionen aber ist die Harmonie der Teile. Bei Diirer heißt
sie „Vergleichung“. Darauf kommt es an, daß die Glieder in ihrer ganzen Versammlung
sich ,,wohl zusammen vergleichen“ oder, mit anderem Ausdruck, ,,sich vergleichlich
reimen“, und damit nimmt Dürer das große Renaissancethema von der Einheitlich-
keit der organischen Bildungen auf, wie es schon L. B. Alberti ins Auge gefaßt hatte.
Wenn man sagt, Diirer habe in seinem Proportionswerk nicht eine Schönheitslehre,
sondern eine Naturlehre geben wollen, eine Morphologie der natiirlichen Gewächse,
so ist das kein Gegensatz: Kunst und Natur fallen zusammen. Und der Satz: ,,Denn
wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur — wer sie heraus kann reißen, der hat sie“,
ist letzten Endes nichts anderes als das allgemeine Bekenntnis der Renaissance: die
Natur sei die vorbildliche Kiinstlerin. ,,Kunst“ kann in diesem Zusammenhang als
gesetzmäßige Schönheit verstanden werden. Dem Italiener ist es leicht gewesen, sie in
der Natur zu sehen und im Kunstwerk zu gestalten, fiir den Nordländer war es ein
schweres Ringen.
,,Es ist eine große Vergleichung zu finden in ungleichen Dingen.“ Auch weit ausein-
anderliegende Gestalten innerhalb einer Gattung werden durch das gemeinsame Bil-
dungsgesetz zusammengehalten, Diirer braucht gelegentlich das Beispiel vom Hund:
es gibt eine Unzahl verschiedener Hunde, aber alle bleiben im Gattungstypus be-
schlossen und unterscheiden sich dauernd von einem Fuchs oder Wolf. Auch Mann
und Weib unterscheiden sich grundsätzlich und haben doch ein gemeinsames der
Art. Die Unterschiede glaubte Diirer durch methodische „Verkehrung“ der Form ge-
winnen zu können, die „Vergleichlichkeit“ aber, d. h. die durchgehende Gesetzmäßig-
keit in allen Bildungen sichtbar zu machen, war fiir ihn eine Hauptaufgabe des mo-
dernen, auf Wissenschaft sich stützenden Kiinstlers.
Aber so weit ist er nicht gegangen, daß er die Schönheit nun iiberhaupt nur in der
Vergleichlichkeit der Figuren hätte befaßt wissen wollen, wobei keine vor der andern
ein ästhetisches Vorrecht besäße und das Wesentliche überhaupt nur in einer Gruppe
von Figuren, nicht in der Einzelfigur zur Erscheinung gelangen könnte. Weder Wort
noch Werk erlauben eine solche Deutung.
Es ist wahr, daß Diirer auf die Erfassung der absoluten Schönheit Verzicht getan
 
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