DAS PROBLEM DER SCHÖNHEIT
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und sich beschieden hat, den Nach-
weis der durchgehenden Proportio-
nalität in den verschiedenen Form-
charakteren zu erbringen, aber des-
wegen ist die Idee einer letzten Schön-
heit als bleibende Forderung doch
nicht abgestorben. Sie wirkt als un-
sichtbares Gravitationszentrum dau-
ernd weiter. ,,Welcher mir mitWahr-
heit kann anzeigen, wie das hüb-
scheste Bild (— die schönste Figur)
zu machen sei, den will ich für den
größten Meister halten“ (LF. 253).
Was wir wissen möchten, ist, ,,wie
die recht Maß wär und kein andere“
(LF. 222), aber solches ,,steigt nicht
in der Menschen Gemüt, die Finster-
niß steckt hart in uns, das weiß Gott
allein —“.
Wenn er die Verkehrungsmöglich-
keiten zeichnerisch am Körper zeigt,
so geht er aus von einem Normfall
und bestätigt auch schriftlich, daß
ein spitziger oder ein flacher Kopf
nicht schön sei, sondern allein ein
runder. Und so kann ein „bäurischer“ Körper (s. Abb.) zwar ganz konsequent ge-
bildet sein, aber es ist selbstverständlich, daß ein ,,adeliger“ Körper ihm ästhetisch
überlegen ist. Das Problem der Schönheit bleibt das zentrale Problem, wenn es auch
für den Menschen nur annäherungsweise lösbar ist.
Er hat unsäglich darunter gelitten, daß die Menschen ästhetisch so verschieden ur-
teilen. Was ihm gefiel, gefiel andern nicht. Warum gibt es keine Übereinstimmung
der Urteile? Er tröstet sich als Psychologe: nicht alle Menschen sehen gleich klar, der
Künstler muß das Recht haben, zu bestimmen, was schön ist. Dann aber warnt er
gleich selbst wieder vor eigner Überschätzung und Willkür: ,,viele sehen mehr als
einer“, und es gibt Momente, wo er, sich direkt widersprechend, erklärt: ,,Das, was
von den meisten als schön gehalten wird, das wollen wir machen1)-“
Die Beschränktheit des Urteils ist eine allgemeine menschliche Eigenschaft. Er hatte
es ja an sich selbst erfahren: nicht einmal seines eigenen Urteils war er sicher. Sein
Schönheitsgefühl hatte in verschiedenen Epochen seines Lebens sich ganz verschieden
ausgesprochen. Gott allein besitzt die klare Vorstellung. Dürer übernahm dies pla-
tonische Wort wohl von Pacioli. ,,Und wem er es wollte offenbaren, der wüßte es
Der „bäurische“ Mann von 7 Hauptlängen. Dresden
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und sich beschieden hat, den Nach-
weis der durchgehenden Proportio-
nalität in den verschiedenen Form-
charakteren zu erbringen, aber des-
wegen ist die Idee einer letzten Schön-
heit als bleibende Forderung doch
nicht abgestorben. Sie wirkt als un-
sichtbares Gravitationszentrum dau-
ernd weiter. ,,Welcher mir mitWahr-
heit kann anzeigen, wie das hüb-
scheste Bild (— die schönste Figur)
zu machen sei, den will ich für den
größten Meister halten“ (LF. 253).
Was wir wissen möchten, ist, ,,wie
die recht Maß wär und kein andere“
(LF. 222), aber solches ,,steigt nicht
in der Menschen Gemüt, die Finster-
niß steckt hart in uns, das weiß Gott
allein —“.
Wenn er die Verkehrungsmöglich-
keiten zeichnerisch am Körper zeigt,
so geht er aus von einem Normfall
und bestätigt auch schriftlich, daß
ein spitziger oder ein flacher Kopf
nicht schön sei, sondern allein ein
runder. Und so kann ein „bäurischer“ Körper (s. Abb.) zwar ganz konsequent ge-
bildet sein, aber es ist selbstverständlich, daß ein ,,adeliger“ Körper ihm ästhetisch
überlegen ist. Das Problem der Schönheit bleibt das zentrale Problem, wenn es auch
für den Menschen nur annäherungsweise lösbar ist.
Er hat unsäglich darunter gelitten, daß die Menschen ästhetisch so verschieden ur-
teilen. Was ihm gefiel, gefiel andern nicht. Warum gibt es keine Übereinstimmung
der Urteile? Er tröstet sich als Psychologe: nicht alle Menschen sehen gleich klar, der
Künstler muß das Recht haben, zu bestimmen, was schön ist. Dann aber warnt er
gleich selbst wieder vor eigner Überschätzung und Willkür: ,,viele sehen mehr als
einer“, und es gibt Momente, wo er, sich direkt widersprechend, erklärt: ,,Das, was
von den meisten als schön gehalten wird, das wollen wir machen1)-“
Die Beschränktheit des Urteils ist eine allgemeine menschliche Eigenschaft. Er hatte
es ja an sich selbst erfahren: nicht einmal seines eigenen Urteils war er sicher. Sein
Schönheitsgefühl hatte in verschiedenen Epochen seines Lebens sich ganz verschieden
ausgesprochen. Gott allein besitzt die klare Vorstellung. Dürer übernahm dies pla-
tonische Wort wohl von Pacioli. ,,Und wem er es wollte offenbaren, der wüßte es
Der „bäurische“ Mann von 7 Hauptlängen. Dresden