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Wölfflin, Heinrich
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst — München: Bruckmann, 1943

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https://doi.org/10.11588/diglit.74713#0061
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I. Das Lineare und das Malerische

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nungsstil eher zu einer neutralen Stoffangabe. Für das 17. Jahrhundert
aber ergibt sich mit dem Interesse für das Malerische wie selbstver-
ständlich auch das Interesse für die Qualität der Oberflächen. Man
zeichnet nichts, ohne Weichheit und Härte, Rauhigkeit und Glätte mit
anzudeuten.
Am interessantesten bewährt sich das Prinzip des Linienstils da, wo das
Objekt ihm am wenigsten entgegenkommt, ja ihm eigentlich widerstrebt.
Das ist der Fall beim Baumschlag. Man kann das einzelne Blatt linear
fassen, aber die Laubmasse, das Laubdickicht, in dem die Einzelform als
solche unsichtbar geworden ist, bietet der linearen Auffassung kaum eine
Grundlage. Nichtsdestoweniger ist diese Aufgabe vom 16. Jahrhundert
nicht als unlösbar empfunden worden. Man findet bei Altdorfer, Wolf
Huber* und anderen prachtvolle Lösungen: das scheinbar Unfaßbare ist
auf eine Linienform gebracht, die sehr energisch spricht und das Charak-
teristische des Gewächses vollkommen wiedergibt. Wer solche Zeichnungen
kennt, dem wird die Wirklichkeit sehr oft die Erinnerung daran wecken,
und sie werden ihr Recht behalten neben den verblüffendsten Leistungen
einer mehr malerisch orientierten Technik. Sie repräsentieren nicht eine
unvollkommenere Stufe der Darstellung, sondern es ist nur eben die Natur
von einer anderen Seite gesehen.
Als Vertreter der malerischen Zeichnung soll A. van de Velde* dienen.
Hier geht die Absicht nicht mehr darauf, das Phänomen auf ein Schema
mit klarem, verfolgbarem Strich zu bringen, hier ist das Unbegrenzte
Trumpf und die Linienmasse, die es ganz unmöglich macht, die Zeich-
nung nach ihren einzelnen Elementen zu fassen. Mit einer Strichführung,
die mit der objektiven Form kaum mehr einen erkennbaren Zusammen-
hang bewahrt und nur intuitiv gewonnen sein kann, ist die Wirkung er-
reicht, daß wir das bewegliche Blattwerk von Bäumen einer bestimmten
Dichtigkeit vor uns zu sehen glauben. Und es ist ganz genau gesagt, was
für Bäume es sind. Das Unbeschreibliche einer Formenunendlichkeit, die
sich jeder Festlegung zu versagen scheint, ist hier mit malerischen Mitteln
bewältigt.
Wirft man den Blick endlich auf die Zeichnung eines landschaftlichen
Ganzen, so ist das Ansehen eines rein linearen Blattes, das die Gegen-
stände auf Weg und Steg, in Nähe und Ferne mit sauber sonderndem
Umriß gibt, leichter zu erraten als jene Form der Landschaftszeichnung,
die das Prinzip der malerischen Verschmelzung der Einzeldinge konsequent
durchführt. Es gibt solche Blätter z. B. von van Goyen*. Sie sind die
Äquivalente seiner tonigen und fast monochromen Bilder. Und wie die
dunstige Verschleierung der Dinge und ihrer Lokalfarben als ein malerisches
Motiv im ausgezeichneten Sinne gilt, so darf eine solche Zeichnung als
 
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