PROLEGOMENA ZU EINER PSYCHOLOGIE DER ARCHITEKTUR
nicht hoch ist. So können wir uns beim Finanzministerium in München des
Eindrucks nicht erwehren, daß es die Stirne runzle, ein Palazzo Strozzi dagegen
wirkt durch seine höhere Obermauer trotz Rustika nicht unmutig, sondern nur
ernst-bedeutsam. Scheinen die Fenster unmittelbar beschattet von einem vor-
stehenden Kranzgesims, so gewinnen wir den Eindruck, als wären die Brauen
zusammengezogen und den Augen als schützendes Überdach gleichsam vor-
geschoben.
Es wäre eine nicht undankbare Aufgabe die physiognomischen Möglichkei-
ten, die die Architektur verkörpern kann, zusammenzustellen. Bei all dem
kommt es natürlich nur auf das Prinzip an, es liegt durchaus nicht die Absicht
vor, menschliche Gesichtszüge nachzuahmen. Vielleicht verliert auch die Idee
einer architektonischen Physiognomik einigermaßen ihr befremdendes, wenn
man bedenkt, daß die menschlichen Ausdrucksbewegungen in den Gesichts-
muskeln denen des ganzen Körpers immer ähnlich sind; so ziehen wir mit den
Augenbrauen gleichzeitig die Schultern in die Flöhe, mit vertikaler Stirnfaltung
verbindet sich Steifung des ganzen Körpers, wer die Brauen über die Augen ver-
schiebt, senkt auch den Kopf gegen die Brust vor. Daraus erklärt sich die Be-
deutung des Prinzips auch in außermenschlicher Verwendung wohl hinlänglich.
So viel in Kürze über den Gegenstand, der im folgenden Abschnitt noch deut-
licher werden wird.
Bevor wir aber übergehn zum Ornament, muß noch auf ein Moment in der
Charakteristik der Vertikalkraft hingewiesen werden.
Form ist Tat. Jedes Fenster muß in jedem Augenblick gegen den Druck der
Materie sich behaupten.
Verschiedene Zeiten haben dies Verhältnis verschieden aufgefaßt.
Der Rundbogen ist anerkanntermaßen fröhlicher als der Spitzbogen: jener
lebt sich ruhig aus - gesättigte Rundung; dieser ist in jeder Linie Wille, An-
strengung, nie ruhend scheint er die Mauer immer noch höher hinauf spalten
zu wollen.
Mit dem Bestreben, in jeder Form den Ausdruck konzentrierten Wollens zu
geben, verbindet sich bei der Gotik eine Abneigung gegen allen Stoff, der stumpf
und breit da liegt. Alles Träge, Haltlose ist ihr unleidlich; was sie mit ihrem
Willen nicht durch und durch dringen kann, muß verschwinden. So kommt es
zu einer gänzlichen Auflösung aller Maße, die Horizontale weicht und im un-
aufhaltsamen Emporfahren befriedigt sich der Drang, befreit von allerSchwere,
hochhinauf die Luft zu durchschneiden.
Den ganzen Bau in funktionierende Glieder auflösen, heißt: jeden Muskel
seines Körpers fühlen wollen. Das ist der eigentliche Sinn der Gotik. Ich komme
später nochmals darauf zurück. Wo immer dieser Drang in der Geschichte sich
findet, ist er ein Symptom hoher Aufregung.
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nicht hoch ist. So können wir uns beim Finanzministerium in München des
Eindrucks nicht erwehren, daß es die Stirne runzle, ein Palazzo Strozzi dagegen
wirkt durch seine höhere Obermauer trotz Rustika nicht unmutig, sondern nur
ernst-bedeutsam. Scheinen die Fenster unmittelbar beschattet von einem vor-
stehenden Kranzgesims, so gewinnen wir den Eindruck, als wären die Brauen
zusammengezogen und den Augen als schützendes Überdach gleichsam vor-
geschoben.
Es wäre eine nicht undankbare Aufgabe die physiognomischen Möglichkei-
ten, die die Architektur verkörpern kann, zusammenzustellen. Bei all dem
kommt es natürlich nur auf das Prinzip an, es liegt durchaus nicht die Absicht
vor, menschliche Gesichtszüge nachzuahmen. Vielleicht verliert auch die Idee
einer architektonischen Physiognomik einigermaßen ihr befremdendes, wenn
man bedenkt, daß die menschlichen Ausdrucksbewegungen in den Gesichts-
muskeln denen des ganzen Körpers immer ähnlich sind; so ziehen wir mit den
Augenbrauen gleichzeitig die Schultern in die Flöhe, mit vertikaler Stirnfaltung
verbindet sich Steifung des ganzen Körpers, wer die Brauen über die Augen ver-
schiebt, senkt auch den Kopf gegen die Brust vor. Daraus erklärt sich die Be-
deutung des Prinzips auch in außermenschlicher Verwendung wohl hinlänglich.
So viel in Kürze über den Gegenstand, der im folgenden Abschnitt noch deut-
licher werden wird.
Bevor wir aber übergehn zum Ornament, muß noch auf ein Moment in der
Charakteristik der Vertikalkraft hingewiesen werden.
Form ist Tat. Jedes Fenster muß in jedem Augenblick gegen den Druck der
Materie sich behaupten.
Verschiedene Zeiten haben dies Verhältnis verschieden aufgefaßt.
Der Rundbogen ist anerkanntermaßen fröhlicher als der Spitzbogen: jener
lebt sich ruhig aus - gesättigte Rundung; dieser ist in jeder Linie Wille, An-
strengung, nie ruhend scheint er die Mauer immer noch höher hinauf spalten
zu wollen.
Mit dem Bestreben, in jeder Form den Ausdruck konzentrierten Wollens zu
geben, verbindet sich bei der Gotik eine Abneigung gegen allen Stoff, der stumpf
und breit da liegt. Alles Träge, Haltlose ist ihr unleidlich; was sie mit ihrem
Willen nicht durch und durch dringen kann, muß verschwinden. So kommt es
zu einer gänzlichen Auflösung aller Maße, die Horizontale weicht und im un-
aufhaltsamen Emporfahren befriedigt sich der Drang, befreit von allerSchwere,
hochhinauf die Luft zu durchschneiden.
Den ganzen Bau in funktionierende Glieder auflösen, heißt: jeden Muskel
seines Körpers fühlen wollen. Das ist der eigentliche Sinn der Gotik. Ich komme
später nochmals darauf zurück. Wo immer dieser Drang in der Geschichte sich
findet, ist er ein Symptom hoher Aufregung.
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