Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Wölfflin, Heinrich; Gantner, Joseph [Editor]
Kleine Schriften: (1886 - 1933) — Basel, 1946

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.28052#0045
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
PROLEGOMENA ZU EINER PSYCHOLOGIE DER ARCHITEKTUR

Schon die Unterscheidung von dekorativ und konstruktiv ist von zweifelhaf-
tem Wert. Man stößt bei der Anwendung sofort auf Bedenken und findet, daß
die Grenze eine fließende sei. Jedenfalls empfiehlt es sich, nicht davon auszu-
gehen, und so nehme ich das Ornament als ganzes und stelle den Satz auf, den
ich nachher erproben will: Das Ornament ist Ausdruck überschüssiger Formkraft. Die
schwere Masse treibt keine Blüten.

Versuchen wir den Wert dieser Erklärung zuerst an einem dorischen Tempel.

Die ganze untere Hälfte, vom Kapitell abwärts, zeigt keine dekorativen For-
men: weder Tempelstufen noch Säulenstamm würden eine Verzierung ertra-
gen: dort haben wir die rohe Masse, schwer daliegend, kaum der einfachsten
Form gewonnen, hier im Säulenstamm erwarten wir Anstrengung, konzentrierte
Kraft, was die Kanellüren deutlich zum Ausdruck bringen; eine skulpierte
Säule hätte den Charakter des Sich-Zusammennehmens vollständig verloren.
Vom Kapitell wollen wir nachher reden. Was kommt über den Säulen? Das
Gebälk, die zu tragende Last, eine mächtige Horizontale. Wäre die Last größer,
so müßten die Säulen in der Mitte ausweichen, die Horizontale würde domi-
nieren. Aber umgekehrt: die Vertikalkraft ist mächtiger, sie durchdringt die
Schwere, erst nur leise, der Architrav verbleibt noch in ungebrochener Ganz-
heit, und nur in den Schilden überden Säulen manifestiert sich die Wirkung des
Stoßes; dann nach Überwältigung dieses ersten Widerstandes wird die Last
leichter, die Kraft bricht durch: es erscheinen in den Triglyphen vertikale Glie-
der, die das Kanellürenmotiv der Säulen wieder aufnehmen, und in den zwi-
schengestellten Metopen bekundet sich schon ein tektonisch-unabhängiges Le-
ben: es ist Raum geschaffen zur Entfaltung feinster Gebilde, und wenn endlich
die Mutuli die ganze Breite des Gebälks ausfüllen, so macht dies den Eindruck,
als klinge hier der Säulenstoß sanft aus, nachdem er sich über das ganze Gebälk
ausgedehnt. Es folgt die höchste Tat: die Schwere ist überwunden, der Über-
schuß der strebenden Kraft erscheint in der Hebung1 des Giebels und feiert den
höchsten Triumph in den plastischen Figuren, die, dem Druck enthoben, hier
frei sich entfalten können'2.

Nun aber, wenn man das auch zugibt, so wird man im Kapitell einen Wider-

1 Vischer fragt einmal, ob der Giebel steige oder sich niedersenke. Beides. Er wird in der Mitte ge-
hoben; Ausdruck dessen: Der Firstziegel; und die Seitenlinien fließen abwärts, denn in den (seitwärts
blickenden) Akroterien beugt die hier sich entwickelnde Kraft sich zurück. (Je steiler der Giebel, desto
bedeutender müssen diese Akroterien sein.) Die Gotik dagegen zeigt in den Krabben eine überschüssige
Vertikalkraft.

2 Es ließe sich vielleicht auch eine Korrespondenz zwischen den Giebelfiguren und der Ordnung
der Triglyphen konstatieren. Ich habe das nicht untersucht. Nur bemerke ich zum Beispiel beim Tem-
pel der Agineten eine solche Entsprechung: 11 Triglyphen - 11 Figuren. — Über den frappanten Zusam-
menhang zwischen Architektur und Composition der «pergamenischen Gigantomachie», vgl. Brunn
in seinem Aufsatz, S. 50, Berlin 1885.

41
 
Annotationen