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Woermann, Karl
Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker (4. Band): Die Kunst der älteren Neuzeit von 1400 bis 1550 — Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.67365#0125
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Die oberrheiniſche Malerei. Martin Schongauer. N 89

berühmte Tod Marias (B. 33; Taf. 14) an, der, ſo ergreifend ſachlich er dargeſtellt iſt, räum-
lich noch nicht voll entwickelt erſcheint. Nach dieſem wurde Schongauers Zeichnung immer
ruhiger und klarer, immer künſtleriſcher abgewogen in der Linienführung, immer überzeu-
gender in der Wiedergabe der dargeſtellten Vorgänge, immer reifer und ausgeglichener in
der Technik, die ſich in der Verteilung von Licht und Schatten, im Maß der Flächenfüllung
und im Rhythmus der Linienführung ihre eigenen, der Schwarzweißkunſt angemeſſenen
Stilgeſetze ſchuf. Hierher gehören ſchon ſo gewaltige Schöpfungen, wie die große, figuren-
reiche Kreuzſchleppung (B. 21) und das größte der Kreuzigungsblätter (B. 25; Taf. 15). Dann
folgen die ſchöne Verkündigung (B. 1 und 2)
und die ganze Reihe ſeiner Meiſterſtiche, in
denen das oberdeutſche Streben nach anmuti-
ger Schönheit immer deutlicher hervortritt.
An Erfindungsreichtum überragte Schon-
gauer alle ſeine nordiſchen Zeitgenoſſen. Die
neue Prägung, die er den heiligen Geſchichten
verlieh, fand, durch ſeine Stiche verbreitet, in
der ganzen Welt Eingang und beherrſchte die
Vorſtellungen mehrerer Künſtlergeſchlechter.
Wie er die Verſuchung des hl. Antonius (B.
47) durch phantaſtiſch zuſammengeſetzte höl-
liſche Plagegeiſter wiedergab, iſt ſie ins Be-
wußtſein ſeiner Zeitgenoſſen übergegangen.
Wie er in jenem großen Breitblatt der Kreuz-
tragung (B. 26) den ergreifenden Vorgang in
mächtigem, vom Troß verfolgten Zuge zur
Anſchauung brachte, iſt er Gemeingut von
Jahrhunderten geworden; und wie er jenen
Auszug der Marktbauern (B. 88) mit einer
Dorf⸗ und Ruinenlandſchaft verbunden hat, 2055. 54. Die Geißelung Chrifii, gupferſuch von
haben auch ſeine Nachfolger Volksleben und Martin Schongauer. 5 5 im Kupferſtichkabinett
Landſchaft in Beziehung zueinander geſetzt. 7
Die große Paſſionsfolge (B. 9—20) zeigt die unerſchöpfliche Erfindungsgabe und Geſtal-
tungskraft des Meiſters im hellſten Lichte; die Henkersknechte der Geißelung z. B. hauen
wirklich (Abb. 54) auf den Heiland ein. Von den Marienbildern verrät die Madonna mit
dem Papagei (B. 29), die ohne Heiligenſchein dargeſtellt iſt, die ganze herbe Kraft ſeiner
Frühzeit, wogegen die Madonna im Hofe (B. 32; Abb. 55), die einen ſchlichten Heiligen-
ſchein trägt, die ganze ſtimmungsvolle Feinheit zeigt, mit der er in ſeiner reifen Zeit die
Linien des landſchaftlichen Grundes mit denen der Hauptgeſtalten zuſammenklingen ließ.
In erhaltenen Tafelgemälden läßt ſich die Eigenart und Größe Schongauers nicht
ſo gut verfolgen wie in ſeinen Stichen. Eine der wenigen wirklichen Perlen der oberdeut-
ſchen Malerei des 15. Jahrhunderts aber iſt Schongauers köſtliche lebensgroße Madonna
im Roſenhag von 1473 in der Martinskirche zu Kolmar (Taf. 13). Auch ſie iſt beſtritten
worden; aber freilich nicht von der maßgebenden Schongauer⸗Forſchung. Ein Wunder des
Farbenzuſammenklanges und der Sammlung verſchiedener Liniierrichtungen zu einheitlichem
 
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