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Wolters, Paul [Contr.]; Wölfflin, Heinrich [Honoree]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0079
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Der Wandel der Bildvorstellungen in der deutschen Dichtung und Kunst 75

allgemeinen Handlung nur un-
terbrechen und ihr Interesse ge-
rade auf das, was nicht erzäh-
lenswert ist, konzentrieren. Tri-
stan beim Zerlegen des Wildes
(28411): „Sinen mantel zöh
er abe und leite den üf einen
stoc: er zöch höher sfnen roc.
sin ermel vielt er vorne wider;
sin schoene här daz streich er
nider, üf sin öre leite er daz“;
die gewarnte Isolde (14693):

„si begunde ir houbet nider län
und vorhtliche gegen im gän“;
der erschöpfte Gawan (Parz.

690,4) schwindelt, strauchelt,
ein Junker springt hinzu, stützt
ihm den Kopf, bindet ihm den
Helm ab und wedelt ihm mit einem Pfauenhute Luft zu. Als Beispiele aus der Malerei
sollen Abb. 6 und 7 den Gegensatz deutlich machen. Das Blatt aus dem Rolandslied gibt
doch keinen Augenblick des Zweikampfes wieder! Die eine Figur sagt: Ich schlage mit
dem Schwert, die andere: Mir ist das Haupt abgeschlagen. Mit dem Bericht, wenn dieser
Gedanke übermittelt ist, ist die Aufgabe der Darstellung gelöst. Wie man in dieser Situa-
tion zuhauen müßte, wie ein abgehauener Kopf herunterfallen, welche Haltung ein ge-
köpfter Körper einnehmen könnte, das liegt völlig außerhalb ihres Interessenkreises. Es
sind keine erstarrten, gefrorenen Bewegungen, wie man wohl manchmal sagt. Überhaupt
kein Bewegungsmoment liegt zugrunde. Abstraktionen, Begriffe von Bewegungen werden
gegeben, denen die „natürlichen“ Eigenschaften einer Bewegung, — das wollte das „erstarrt“
ausdrücken — alles Motorische, fehlt, die deshalb auch isoliert für sich bleiben und nicht
ineinandergreifen. Beim Gegenbeispiel Abb. 7 ist das Interesse am Handlungswichtigen,
am Berichtbaren, ganz zurückgetreten hinter den Fragen: Wie kann ein Körper sich vor-
lehnen, ein Arm, beide Hände das Schwert erheben, ein toter, zusammengesunkener Kör-
per auf dem Pferd gehalten werden, wie können Pferde die Beine werfen, den Kopf heben,
Bewegungen sich antworten, sich verschränken. Dinge, die nicht berichtbar sind, bilden
den Bildinhalt. Die geschauten, nach ihrer optischen Erscheinung klargemachten Bewe-
gungen2) haben motorischen Gehalt und erzeugen ein Illusionsbild. — Ihr motorischer
Gehalt ist freilich nicht gleichzusetzen einer modernen Bewegungssuggestion. Man darf
in solche Szenen in der Dichtung wie in der Kunst keine Momentanität legen. Eine Zeit,
die den gemalten Drachen eines Schildes (Parz. 262,5), den blechenen eines Zeltwimpels
(278,17) „alser lebendec da flüge“ empfindet, hat keinen Blick für das Momentane. Wie

>) Zu der „genauen Tatsächlichkeit“ bei Gottfried, den Beschreibungen, die er „ebensogut weglassen konnte,
ohne dadurch der Verständlichkeit seines Berichtes Eintrag zu tun“, vgl. Heinzei, Kleine Schriften, S. 26.

2) Das Zeitalter kennt Bewegungsstudien, Beispiele die Federskizzen in ms. Nr. 323 Bl. 102*> der Leip-
ziger Universitätsbibliothek (Bruck, Die Malereien i. d. Handschriften d. Kgr. Sachsen, 1906, Nr. 23).

Abb. 7. Morgan tötet Riwalin

Aus dem Tristan, München, Staatsbibliothek, um 1230
 
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