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Sechstes Buch. Erfter Abfchnitt.
Naturftudien verbundenen, aufrichtig gemeinten Wiederanknüpfung an die
frifcheften und lebendigften Meifter der grofsen Vergangenheit und auf dem
Wege rückfichtslofer Verfchmähung der Erfahrungen früherer Zeiten und kühner
Eroberung einer felbftändigen, neuen Anfchauung und Auffaffung der Welt
der Erfcheinungen. Jener war der Weg des Talentes, diefer derjenige des
Genies. Was auf dem erfteren Wege zu erreichen war, hatten die Carracci
und ihre Nachfolger erreicht; und wir haben gefehen, dafs die Nachwelt alle
Urfache hat, fich der Leiftungen, zu denen ihr Weg diefe Meifter führte, zu
an^eioMerifi erfreuen- Den zweiten Weg betrat Michelangelo MerifM} (Merifio, Amerigi,
Merigi, Amerighi) da Caravaggio, ficher ein Genius, aber kein fo reiner, klarer,
Seine felbftlofer Genius, dafs er allein die hohen Ziele, die ihm vorfchwebten, in
Richtung. .
einer für alle Zeiten mafsgebenden Weife erreicht hätte, vielmehr ein wilder,
leidenfchaftlicher Geift, der die Wahl feiner Mittel nicht immer mit ruhiger
Sicherheit beherrfchte,. immer aber bahnbrechend wirkte und daher von weit
gröfserem Einflufs auf die Kunftentwicklung des ganzen fiebzehnten Jahrhun-
derts wurde, als man nach der geringen Zahl eigentlicher Schüler, die er
gebildet, annehmen follte. Seines Zieles war er fich eben jederzeit voll be-
wufst1 2); es galt, die Natur mit eigenen Augen, den neuen Augen der neuen
Zeit anzufehen, es galt, nur der fo angefehenen Natur und dem eigenen Triebe
zu folgen, es galt, nicht nur dem Manierismus der veralteten Meifter, fondern
auch dem Eklekticismus der allmächtig erfcheinenden Schule von Bologna einen
unerbittlichen Krieg zu erklären; und wenn er perfönlich in diefem Kampfe,
den er, leidenfchaftlich wie er war, felbft aufs perfönliche Gebiet hinüberzu-
ziehen pflegte, auch zu Grunde ging, fo wurden feine Grundfätze doch das
Feldgefchrei, unter dem die beften Maler ganz Europas im fiebzehnten Jahr-
Seine hundert ihre Siege erfochten. Nichts ift daher verkehrter, als die Bedeutung
diefes Meifters nur mit dem Mafsftabe zu meßen, den feine felbft in feindlichen
Richtungen befangenen erften Biographen, Baglione und Bellori3) bei aller
Anerkennung feines Ruhmes und feiner Vorzüge an ihn anlegten, oder kein
anderes Urtheil über ihn zu fällen, als die aus der erften Hälfte unferes Jahrhun-
derts mit feiner Abneigung gegen alles »Stillofe« hervorgewachfenen, in anderen
Dingen noch immer mafsgebenden grofsen modernen Kritiker.4)
^Sein Na- Ohne Zweifel ift es richtig, Michelangelo da Caravaggio an die Spitze der
naturaliftifchen Meifter des fiebzehnten Jahrhunderts zu ftellen; denn im Ver-
gleich zu den Schöpfungen der Manieriften und felbft der Eklektiker fcheinen
1) Dies oder »Merifio« der eigentliche Familienname nach A. Bertolotti-, Artifti lombardi a
Roma, Milano 1881, p. 49 ff.
2) Im Jahre 1603 fagte er, von Giov. Baglione wegen Beleidigung verklagt, in Rom vor Ge-
richt aus, dafs er unter einem »pittore valenthuomo« einen Meifter verftehe »ehe sappi depingere bene
et imitar bene le cose naturali.« Bertolotti a. a. O. II, p. 58—-59-
3) Baglione, Le Vite etc., Rom 1642, p. 136—139, —Bellori, Le Vite etc., Rom 1672,
p. 201 — 216.
4) Eine unbefangene kritifche Würdigung der Verdienfte des Meifters findet fich übrigens fchon
bei M. Unger, Kritifche Forfchungen im Gebiete der Malerei. Leipzig 1865, S. 159—r7§- — Uie
befte moderne Biographie des Meifters (von Fr. IV. Unger und J. Meyer) in Meyers Allg. Künftler-
lexikon, Bd. I, p. 613 — 623, nebft dem Kupferftich-Nachtrag von W. Schmidt u. W. Engelmann.
— Ferner O. Eifenmanns Arbeit in Dohme’s Kunft und Künftler.
Sechstes Buch. Erfter Abfchnitt.
Naturftudien verbundenen, aufrichtig gemeinten Wiederanknüpfung an die
frifcheften und lebendigften Meifter der grofsen Vergangenheit und auf dem
Wege rückfichtslofer Verfchmähung der Erfahrungen früherer Zeiten und kühner
Eroberung einer felbftändigen, neuen Anfchauung und Auffaffung der Welt
der Erfcheinungen. Jener war der Weg des Talentes, diefer derjenige des
Genies. Was auf dem erfteren Wege zu erreichen war, hatten die Carracci
und ihre Nachfolger erreicht; und wir haben gefehen, dafs die Nachwelt alle
Urfache hat, fich der Leiftungen, zu denen ihr Weg diefe Meifter führte, zu
an^eioMerifi erfreuen- Den zweiten Weg betrat Michelangelo MerifM} (Merifio, Amerigi,
Merigi, Amerighi) da Caravaggio, ficher ein Genius, aber kein fo reiner, klarer,
Seine felbftlofer Genius, dafs er allein die hohen Ziele, die ihm vorfchwebten, in
Richtung. .
einer für alle Zeiten mafsgebenden Weife erreicht hätte, vielmehr ein wilder,
leidenfchaftlicher Geift, der die Wahl feiner Mittel nicht immer mit ruhiger
Sicherheit beherrfchte,. immer aber bahnbrechend wirkte und daher von weit
gröfserem Einflufs auf die Kunftentwicklung des ganzen fiebzehnten Jahrhun-
derts wurde, als man nach der geringen Zahl eigentlicher Schüler, die er
gebildet, annehmen follte. Seines Zieles war er fich eben jederzeit voll be-
wufst1 2); es galt, die Natur mit eigenen Augen, den neuen Augen der neuen
Zeit anzufehen, es galt, nur der fo angefehenen Natur und dem eigenen Triebe
zu folgen, es galt, nicht nur dem Manierismus der veralteten Meifter, fondern
auch dem Eklekticismus der allmächtig erfcheinenden Schule von Bologna einen
unerbittlichen Krieg zu erklären; und wenn er perfönlich in diefem Kampfe,
den er, leidenfchaftlich wie er war, felbft aufs perfönliche Gebiet hinüberzu-
ziehen pflegte, auch zu Grunde ging, fo wurden feine Grundfätze doch das
Feldgefchrei, unter dem die beften Maler ganz Europas im fiebzehnten Jahr-
Seine hundert ihre Siege erfochten. Nichts ift daher verkehrter, als die Bedeutung
diefes Meifters nur mit dem Mafsftabe zu meßen, den feine felbft in feindlichen
Richtungen befangenen erften Biographen, Baglione und Bellori3) bei aller
Anerkennung feines Ruhmes und feiner Vorzüge an ihn anlegten, oder kein
anderes Urtheil über ihn zu fällen, als die aus der erften Hälfte unferes Jahrhun-
derts mit feiner Abneigung gegen alles »Stillofe« hervorgewachfenen, in anderen
Dingen noch immer mafsgebenden grofsen modernen Kritiker.4)
^Sein Na- Ohne Zweifel ift es richtig, Michelangelo da Caravaggio an die Spitze der
naturaliftifchen Meifter des fiebzehnten Jahrhunderts zu ftellen; denn im Ver-
gleich zu den Schöpfungen der Manieriften und felbft der Eklektiker fcheinen
1) Dies oder »Merifio« der eigentliche Familienname nach A. Bertolotti-, Artifti lombardi a
Roma, Milano 1881, p. 49 ff.
2) Im Jahre 1603 fagte er, von Giov. Baglione wegen Beleidigung verklagt, in Rom vor Ge-
richt aus, dafs er unter einem »pittore valenthuomo« einen Meifter verftehe »ehe sappi depingere bene
et imitar bene le cose naturali.« Bertolotti a. a. O. II, p. 58—-59-
3) Baglione, Le Vite etc., Rom 1642, p. 136—139, —Bellori, Le Vite etc., Rom 1672,
p. 201 — 216.
4) Eine unbefangene kritifche Würdigung der Verdienfte des Meifters findet fich übrigens fchon
bei M. Unger, Kritifche Forfchungen im Gebiete der Malerei. Leipzig 1865, S. 159—r7§- — Uie
befte moderne Biographie des Meifters (von Fr. IV. Unger und J. Meyer) in Meyers Allg. Künftler-
lexikon, Bd. I, p. 613 — 623, nebft dem Kupferftich-Nachtrag von W. Schmidt u. W. Engelmann.
— Ferner O. Eifenmanns Arbeit in Dohme’s Kunft und Künftler.