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Sechstes Buch. II. Abtheilung. Erfter Abfchnitt.
Alle feine nächften Vorgänger waren an den gleichen Beftrebungen gefcheitert;
aber Rubens befafs eben diefe Kraft, eine Kraft, welche aus der feltenen Ver-
einigung der gewaltigften natürlichen Anlagen mit der feinften, durch glückliche
äufsere Lebensumftände geförderten allgemeinen Bildung entfprang und ihn
befähigte, Andrea Mantegna, Leonardo da Vinci und Tizian zu copiren, Michel-
angelo, Correggio und Paolo Veronefe auf fich einwirken zu laffen und doch
Seine immer er felbft, immer der nordifche Naturalift mit mächtig ausgebildeter
Originalität. .... fc>
Individualität zu bleiben. Er erkannte auch, dafs das venezianifche, realiftifch-
coloriftifche Kunftgefühl am leichterten eine organifche Verbindung mit dem
vlämifchen einging; und wenn fich auch der Einflufs der gewaltigen Formen-
fprache Michelangelo’s aus vielen feiner Werke nicht wegdenken läfst, fo hat er
unzweifelhaft doch am meiften von Tizian und Paolo Veronefe in fich auf-
genommen, befonders in der freien leichten Compofitionsweife und in der frifchen,
leuchtenden Farbenglut. Und wie verfchieden ift trotzdem fein Stil als Ganzes
Seine genommen von dem ihren! wie unverkennbar tritt uns die ausgeprägte nordifche
nordifche
Eigenart. Eigenart aus jedem feiner Gemälde entgegen 1 Seine Menfchen find keine Nach-
kommen der alten Griechen und Römer, fondern in ihrer Lebenskraft auf gefunder
Grundlage noch über fich felbft hinaus gehobene und gefteigerte Mufterexemplare
feiner eigenen Landsleute: vlämifche Männer und Frauen von mächtigem Glieder-
bau, von blühender Gefundheit, deren frifches Lebensblut man in ihren Adern
klopfen und durch die weiblich-weifse, wie durch die männlich-fonnenverbrannte
Haut hindurchfchimmern zu fehen meint; aber wohlverftanden: in ihrer Lebens-
kraft gefteigerte vlämifche Männer und Frauen, fo gut wie Raphaels Gehalten
in ihrer Schönheit gefteigerte italienifche Männer und Frauen find; denn folche
Menfchen, wie fie uns aus Rubens Bildern — abgefehen natürlich von den
Bildniffen — entgegentreten, find denn doch in feinem Vaterlande ebenfo feiten
Sein zu finden, wie fixtinifche Madonnen in Italien. So ftark das realiftifche Grund-
Realismus.
geftihl bei Rubens überall zum Durchbruch kommt, er war eben doch ein zu
grofser, ein zu ganzer Künftler, als dafs es ihm möglich gewefen wäre, die
zufällige nackte Wirklichkeit mit der künftlerifchen Wahrheit zu verwechfeln;
ja, feine Subjektivität ift bei all feinem Realismus fo ftark entwickelt, dafs er
Seine Typen, beftimmte, von ihm bevorzugte Typen nicht nur mit mannichfachen Ver-
änderungen in allen feinen eigenen Bildern wiederholt, fondern auch feiner
ganzen Schule aufnöthigt, fo dafs fie uns fchliefslich aus faft allen vlämifchen
Bildern des Jahrhunderts entgegentreten, diefe kühn gewölbten Stirnen, diefe
mächtig gefchwungenen Brauen, diefe grofsen Augen, diefe vollen, fleifchigen
Wangen, diefe kräftigen Lippen. Die einzelnen Theile des Geflehtes fetzen
fich fchärfer gegen einander ab, als bei den italienifchen Typen; die ganzen
Geflehter erfcheinen energifcher und eigenwilliger; und doch kehren fie überall
wieder, »die nämlichen bärtigen Köpfe mit den leuchtenden Augen, die jugend-
lichen Männer mit dem ritterlich-heroifchen Ausdruck, die fchönen Weiber mit
blondem Haar, gerötheten Wangen und frohem Lächeln« j). Rubens eigenftem
dramatifche Naturell entfprang ferner feine Vorliebe für mächtige Lebensäufserungen und
Lebkeitlg' kühne Bewegungen. Die Wucht des Anpralls, des Stofses, des Hiebes, des
i) A. Woltmann, Aus vier Jahrhunderten, Berlin 1878, S. 64.
Sechstes Buch. II. Abtheilung. Erfter Abfchnitt.
Alle feine nächften Vorgänger waren an den gleichen Beftrebungen gefcheitert;
aber Rubens befafs eben diefe Kraft, eine Kraft, welche aus der feltenen Ver-
einigung der gewaltigften natürlichen Anlagen mit der feinften, durch glückliche
äufsere Lebensumftände geförderten allgemeinen Bildung entfprang und ihn
befähigte, Andrea Mantegna, Leonardo da Vinci und Tizian zu copiren, Michel-
angelo, Correggio und Paolo Veronefe auf fich einwirken zu laffen und doch
Seine immer er felbft, immer der nordifche Naturalift mit mächtig ausgebildeter
Originalität. .... fc>
Individualität zu bleiben. Er erkannte auch, dafs das venezianifche, realiftifch-
coloriftifche Kunftgefühl am leichterten eine organifche Verbindung mit dem
vlämifchen einging; und wenn fich auch der Einflufs der gewaltigen Formen-
fprache Michelangelo’s aus vielen feiner Werke nicht wegdenken läfst, fo hat er
unzweifelhaft doch am meiften von Tizian und Paolo Veronefe in fich auf-
genommen, befonders in der freien leichten Compofitionsweife und in der frifchen,
leuchtenden Farbenglut. Und wie verfchieden ift trotzdem fein Stil als Ganzes
Seine genommen von dem ihren! wie unverkennbar tritt uns die ausgeprägte nordifche
nordifche
Eigenart. Eigenart aus jedem feiner Gemälde entgegen 1 Seine Menfchen find keine Nach-
kommen der alten Griechen und Römer, fondern in ihrer Lebenskraft auf gefunder
Grundlage noch über fich felbft hinaus gehobene und gefteigerte Mufterexemplare
feiner eigenen Landsleute: vlämifche Männer und Frauen von mächtigem Glieder-
bau, von blühender Gefundheit, deren frifches Lebensblut man in ihren Adern
klopfen und durch die weiblich-weifse, wie durch die männlich-fonnenverbrannte
Haut hindurchfchimmern zu fehen meint; aber wohlverftanden: in ihrer Lebens-
kraft gefteigerte vlämifche Männer und Frauen, fo gut wie Raphaels Gehalten
in ihrer Schönheit gefteigerte italienifche Männer und Frauen find; denn folche
Menfchen, wie fie uns aus Rubens Bildern — abgefehen natürlich von den
Bildniffen — entgegentreten, find denn doch in feinem Vaterlande ebenfo feiten
Sein zu finden, wie fixtinifche Madonnen in Italien. So ftark das realiftifche Grund-
Realismus.
geftihl bei Rubens überall zum Durchbruch kommt, er war eben doch ein zu
grofser, ein zu ganzer Künftler, als dafs es ihm möglich gewefen wäre, die
zufällige nackte Wirklichkeit mit der künftlerifchen Wahrheit zu verwechfeln;
ja, feine Subjektivität ift bei all feinem Realismus fo ftark entwickelt, dafs er
Seine Typen, beftimmte, von ihm bevorzugte Typen nicht nur mit mannichfachen Ver-
änderungen in allen feinen eigenen Bildern wiederholt, fondern auch feiner
ganzen Schule aufnöthigt, fo dafs fie uns fchliefslich aus faft allen vlämifchen
Bildern des Jahrhunderts entgegentreten, diefe kühn gewölbten Stirnen, diefe
mächtig gefchwungenen Brauen, diefe grofsen Augen, diefe vollen, fleifchigen
Wangen, diefe kräftigen Lippen. Die einzelnen Theile des Geflehtes fetzen
fich fchärfer gegen einander ab, als bei den italienifchen Typen; die ganzen
Geflehter erfcheinen energifcher und eigenwilliger; und doch kehren fie überall
wieder, »die nämlichen bärtigen Köpfe mit den leuchtenden Augen, die jugend-
lichen Männer mit dem ritterlich-heroifchen Ausdruck, die fchönen Weiber mit
blondem Haar, gerötheten Wangen und frohem Lächeln« j). Rubens eigenftem
dramatifche Naturell entfprang ferner feine Vorliebe für mächtige Lebensäufserungen und
Lebkeitlg' kühne Bewegungen. Die Wucht des Anpralls, des Stofses, des Hiebes, des
i) A. Woltmann, Aus vier Jahrhunderten, Berlin 1878, S. 64.