Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Woermann, Karl; Woltmann, Alfred [Editor]; Woermann, Karl [Editor]
Geschichte der Malerei (Band 3,2) — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1888

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.48522#0104
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
632

Sechstes Buch. II. Abtheilung. Zweiter Abfchnitt.

das Verftändnifs feines Schaffens. Das Motiv der kreuzlofen Judengrabmäler
entnahm er in der That dem Judenkirchhof bei Amfterdam. Die Grabmäler
fand er, wie ein Stich nach einer Zeichnung feiner Hand beweift, ungefähr in
derfelben Anordnung, wie er fie dargeftellt, auf diefem Judenkirchhof vor1).
Alles übrige that er hinzu. Gleichwohl hatte er alles übrige einzeln auch der
Natur abgefehen- an Backfteinruinen, wie er ihrer eine hinter den Grabmälern
anordnete, war fchon Holland felbft damals, nach den Kriegen, nicht arm.
Noch heute fleht die Ruine Brederode bei Haarlem ähnlich da. Junigrüne Eich-
bäume, wie er ihrer einen zur Rechten aufftellte — auf die Zeit um Mitte Juni
deutet auch der blühende Flieder an den Gräbern — und kahle, abgeflorbene
Bäume, wie er ihrer einen vor den üppig grünenden fetzte, hatte er zu hunderten
nach der Natur ftudirt. Reifsende, über Felsblöcke fchäumende Bergwäffer,
wie der Strom, der links durch die Gräber brauft, konnte er felbft im Bereiche
feiner Studienwanderungen genug gefehen haben; dazu brauchte er nicht ein-
mal die norwegifchen Studien feines Freundes Everdingen; nur am Amfterdamer
Judenkirchhof hatte er einen folchen wafferfallartigen Bergftrom ficher nicht
gefehen. Und was machte Ruisdael nun mit allen diefen Einzelmotiven ? Er
ftellte fie zu einem ganz neuen, ganz eigenartigen, nur aus der Künfllerphantafie
geborenen Gefammtbilde zufammen, wie es feines gleichen nicht hat; und zu-
gleich macht er die Empfindung der Vergänglichkeit alles Irdifchen, welche die
Betrachtung jener Amfterdamer Judengräber in ihm angeregt haben mochte,
in poetifch gefteigerter Weife zur geiftigen Grundidee feines Landfchaftsbildes.
Die Vergänglichkeit aller Menfchen und alles MenfchenWerkes, ja felbft der
Pflanzengebilde der organifchen Natur ift weder in Worten, noch in Farben
jemals fo eindringlich gefchildert worden wie hier. Das ftattliche Gebäude im
Mittelgründe ift längft zur Ruine zerfallen; der ftattliche Eichbaum im Vorder-
gründe ift längft entblättert und abgeftorben; die Todten in ihren Sarkophagen
ruhen dort, wer weifs wie lange fchon in ihrer Abgefchiedenheit; aber felbft
ihnen gönnen die raftlos zerftörenden Naturgewalten dort keine Ruhe; ein vom
Regen und Sturm gefchwellter Bergbach wühlt fich mitten durch den Friedhof
feine Bahn und reifst felbft die Gräber und reifst felbft die todten Baumftämme
mit hinab; und kohlfchwarz ballen am Himmel fich die Wetterwolken; der
Sturm, der mit ihnen heranbrauft, mag die Bäume zerknicken, vielleicht die
Mauern mit den öden Fenfterhöhlen umftürzen, der Regen wird den Strom
noch höher fchwellen; alles wird dem Erdboden wieder gleich gemacht werden,
alles mufs ins Urchaos zurückkehren. Matt nur, einem fchwachen Hoffnungs-
ftrahle vergleichbar, wölbt der Bogen des Friedens fich links vor dem fchwarzen
Vergleich Gewölk. — In unterer realiftifchen Zeit giebt es natürlich Kenner, welche Bilder
kirchhofs diefer Art für eine Verirrung Ruisdaels halten und ihnen gegenüber auf die
realiftifchen köfllich natur wahren, einfach der Wirklichkeit abgefehenen Landfchaften des
n em. Meif]-ers, wje fie z als »Schlofs Bentheim«, als »der Waldweg« und als
»der Eichenhügel« in der Dresdener Galerie neben dem »Judenkirchhof« hängen,
als auf die einzig gefunden Werke des Meifters hinweifen. Streiten darüber nützt

i) Stich mit den Unterfchriften: Begraefplaetz der Joden buyten Amfterdam. J. van Ruys-
dael inv. A. Blotelingh fecit et exc. 1670.
 
Annotationen