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DER BAUGEDANKE DER GOTIK

lebendiger Kräfte. Zwischen logischer Gesetzmässigkeit
und organischer Notwendigkeit ist hier eine Synthese ge-
schaffen, die den anderen idealen klassischen Synthesen von
Begriff und Anschauung, von Denken und Erfahrung, von
Verstand und Sinnlichkeit vollkommen entspricht. Das
Ideale dieser Synthese besteht darin, dass keiner der die Syn-
these bildenden Faktoren zu kurz kommt, sie durchdringen
sich vielmehr, sie unterstützen sich, sie ergänzen sich. Damit
ist schon gesagt, dass diese architekturale Synthese nicht
durch eine Vergewaltigung des Steins und seiner materiellen
Gesetzlichkeit zustande kommt; vielmehr geht die kon-
struktive Gesetzlichkeit unmerklich und ohne Gewalt-
samkeit in die organische Gesetzlichkeit über. Bei voller
Bejahung des Steins und seiner materiellen Gesetzlichkeit
erreicht die klassische Architektur also ihren lebendigen
Ausdruckswert.
Den Stein bejahen, heisst die Auseinandersetzung von
Last und Kraft architektonisch auszusprechen. Denn das
Wesen des Steins ist Schwere, auf dem Gesetz der Trägheit
baut sich seine architektonische Verwendbarkeit auf. Der
primitive Baumeister nutzt die Schwere des Steins nur
praktisch aus, der klassische Baumeister aber nutzt sie auch
künstlerisch aus; er bejaht sie ausdrücklich, indem er zum
künstlerischen Gedanken des Baues die Auseinandersetzung
von Last und Kraft macht. Er bejaht den Stein, indem er
seine konstruktive Gesetzlichkeit zu einer organisch leben-
digen Gesetzlichkeit macht, d. h. indem er ihn versinnlicht.
Alles was die griechische Architektur an Ausdruck erreicht,
erreicht sie mit dem Stein, durch den Stein, alles was
die gotische Architektur an Ausdruck erreicht, erreicht sie
— hier kommt der volle Kontrast zur Geltung — trotz
des Steins. Ihr Ausdruck baut sich nicht auf der Materie
auf, sondern kommt nur durch ihre Verneinung, nur durch
ihre Entmaterialisation zustande.
Wenn wir einen Blick auf die gotische Kathedrale werfen,
sehen wir nur eine gleichsam versteinerte Vertikalbewegung,
in der jedes Gesetz der Schwere ausgeschaltet zu sein scheint.
Wir sehen nur eine ungeheuer starke, der natürlichen Schwer-
kraft des Steins entgegengesetzte Kräftebewegung nach
oben. Keine Mauer, keine Masse gibt es, die uns den Ein-
 
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