430 HERMANN BEENKEN.
zunächst in der Schicht der räumlichen Wirkungsqualitäten zu voll-
ziehen haben, da diese die Unterlage für alle übrigen ist, da das
Problem der räumlichen Einbeziehung des Teiles in das künstlerische
Ganze das einzige ist, um das bildende Kunst überhaupt ihrem Wesen
nach nicht herum kann, so daß hier die sicherste Aussicht besteht, daß
unsere Deskriptionen Phänomene von allerallgemeinster Vergleichbar-
keit treffen.
Ein paar leicht faßliche Beispiele solcher elementaren, grund-
legenden Analysen: Die Umrißlinie auf einem griechischen Vasenbilde
klassischer Zeit ist in ihrem Verlauf nur in einer Richtung orientiert,
eben in der Richtung ihres Verlaufes in der Fläche, in der sie einen
Teil umschreibt. Die Umrißlinie der Figur einer Renaissancezeich-
nung dagegen will zugleich Horizont einer körperlichen Rundung
sein. Jeder ihrer Punkte besitzt eine richtungsmäßige Bezogenheit
zu einem Vorne und Hinten. Eine Wölbung in der Tiefenrichtung
ist prinzipiell gleichwertig der Wölbung in der Flächenrichtung, von
der die Umrißlinie, sofern sie nicht selber schon tiefenhaft verläuft,
einen Querschnitt gibt. Beide Wölbungsrichtungen sind mit solcher
Intensität herausgearbeitet, daß das Auge sich an ihnen entlang-
zutasten, d. h. jeden einzelnen Punkt in bezug auf Dreidimensio-
nales zu orientieren, gezwungen ist. Man sieht, in welcher Tiefen-
schicht sich jeder Punkt des Bildes im Verhältnis zu einem jeden
anderen Punkte befindet, ebenso wie seine Lagerung in der Fläche
eine eindeutig fixierte ist. Diese Gleichmäßigkeit der Orientierung
in Fläche und Tiefe fehlt etwa der Körpermodellierung spätantiker
Malerei noch durchaus. Für größere Raumzusammenhänge leistet sie
das System der Zentralperspektive, das eine einheitlich orientierte Bild-
fügung ermöglicht, in der keinerlei Verschiebungen von Teilen des
Bildganzen möglich sind, die sich nicht in dieses System einordnen
oder es gesetzmäßig — durch Verlagerung von Blick- und Flucht-
punkt — mit verschieben müßten. Alles das kennt die Antike und
kennt das gesamte Mittelalter nicht. Kein Wunder, daß sich die
Renaissance mit der Gewinnung dieses Systems am Ziele aller Kunst-
entwicklung glauben konnte! Aber die Entwicklung ist weiter ge-
gangen. Eine Zeichnung allerneuesten Stiles, etwa von Paul Klee,
enthält Linien, deren räumliche Bezogenheit weit umfassender dimen-
sioniert ist als die jeder Renaissancezeichnung. Stilblind ist, wer hier
nur kindliches Gekritzel sieht. Da gibt es Striche, die wie durch das
Leere gezogen scheinen, völlig von Raum umflossen. Das Auge wird
also genötigt, die Linie und jeden Punkt der Linie als nach allen
Seiten raumbezogen abzulesen. Die Körper, an deren starren Ober-
flächen jede Renaissancelinie haftet, werden durchsichtig, Flächen
zunächst in der Schicht der räumlichen Wirkungsqualitäten zu voll-
ziehen haben, da diese die Unterlage für alle übrigen ist, da das
Problem der räumlichen Einbeziehung des Teiles in das künstlerische
Ganze das einzige ist, um das bildende Kunst überhaupt ihrem Wesen
nach nicht herum kann, so daß hier die sicherste Aussicht besteht, daß
unsere Deskriptionen Phänomene von allerallgemeinster Vergleichbar-
keit treffen.
Ein paar leicht faßliche Beispiele solcher elementaren, grund-
legenden Analysen: Die Umrißlinie auf einem griechischen Vasenbilde
klassischer Zeit ist in ihrem Verlauf nur in einer Richtung orientiert,
eben in der Richtung ihres Verlaufes in der Fläche, in der sie einen
Teil umschreibt. Die Umrißlinie der Figur einer Renaissancezeich-
nung dagegen will zugleich Horizont einer körperlichen Rundung
sein. Jeder ihrer Punkte besitzt eine richtungsmäßige Bezogenheit
zu einem Vorne und Hinten. Eine Wölbung in der Tiefenrichtung
ist prinzipiell gleichwertig der Wölbung in der Flächenrichtung, von
der die Umrißlinie, sofern sie nicht selber schon tiefenhaft verläuft,
einen Querschnitt gibt. Beide Wölbungsrichtungen sind mit solcher
Intensität herausgearbeitet, daß das Auge sich an ihnen entlang-
zutasten, d. h. jeden einzelnen Punkt in bezug auf Dreidimensio-
nales zu orientieren, gezwungen ist. Man sieht, in welcher Tiefen-
schicht sich jeder Punkt des Bildes im Verhältnis zu einem jeden
anderen Punkte befindet, ebenso wie seine Lagerung in der Fläche
eine eindeutig fixierte ist. Diese Gleichmäßigkeit der Orientierung
in Fläche und Tiefe fehlt etwa der Körpermodellierung spätantiker
Malerei noch durchaus. Für größere Raumzusammenhänge leistet sie
das System der Zentralperspektive, das eine einheitlich orientierte Bild-
fügung ermöglicht, in der keinerlei Verschiebungen von Teilen des
Bildganzen möglich sind, die sich nicht in dieses System einordnen
oder es gesetzmäßig — durch Verlagerung von Blick- und Flucht-
punkt — mit verschieben müßten. Alles das kennt die Antike und
kennt das gesamte Mittelalter nicht. Kein Wunder, daß sich die
Renaissance mit der Gewinnung dieses Systems am Ziele aller Kunst-
entwicklung glauben konnte! Aber die Entwicklung ist weiter ge-
gangen. Eine Zeichnung allerneuesten Stiles, etwa von Paul Klee,
enthält Linien, deren räumliche Bezogenheit weit umfassender dimen-
sioniert ist als die jeder Renaissancezeichnung. Stilblind ist, wer hier
nur kindliches Gekritzel sieht. Da gibt es Striche, die wie durch das
Leere gezogen scheinen, völlig von Raum umflossen. Das Auge wird
also genötigt, die Linie und jeden Punkt der Linie als nach allen
Seiten raumbezogen abzulesen. Die Körper, an deren starren Ober-
flächen jede Renaissancelinie haftet, werden durchsichtig, Flächen