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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Lipps, Theodor: Zur "ästhetischen Mechanik"
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0020
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16 THEODOR LIPPS.

ruhenden Gleichgewichtes zwischen Schwere und vertikaler Tätigkeit.
Derselbe ist also ein Grenzpunkt von eigener Art; von anderer Art
als die Endpunkte der horizontalen Linien.

Ist der Anfangspunkt der vertikalen Linie ein Punkt einer horizon-
talen Linie, so erhebt sich jene von dieser als ihrer Basis. Ist ihr
oberer Endpunkt ein solcher, dann senkt sie sich von der durch die
horizontale Linie bezeichneten Höhe herab. Jetzt ist dieser Punkt
nicht mehr Endpunkt, sondern Anfangspunkt, aber Anfangspunkt für
die Wirkung der Schwere. Diese ist es jetzt, welche die Ausdehnung
der Linien erzeugt, und das am unteren Ende stattfindende Gleich-
gewicht ist das Gleichgewicht zwischen der Schwere und dem inneren
Zusammenhalt, oder der inneren Festigkeit der Linie.

Läuft die vertikale Linie von einer horizontalen zu einer horizon-
talen, so bestehen die drei Möglichkeiten. Einmal, sie richtet sich
vertikal auf gegen die obere horizontale Linie. Und dies kann wiederum
zweierlei heißen: Einmal, sie trägt die letztere, oder aber sie richtet
sich nur einfach auf, und die horizontale Linie schwebt über ihr.
Damit ist zugleich die obere horizontale Linie verschieden charakte-
risiert, nämlich einmal als getragen d. h. lagernd oder lastend, zum
anderen als schwebend, d. h. sich frei in ihrer Höhenlage erhaltend
und in jedem ihrer Punkte das Gleichgewicht zwischen Schwere und
vertikaler Gegenbewegung repräsentierend.

Die zweite Möglichkeit ist die: Die vertikale Linie streckt sich von
oben nach unten und hält die obere horizontale in bestimmter Ent-
fernung von der unteren.

Dazu tritt endlich die dritte Möglichkeit. Die vertikale Linie streckt
sich zwischen der oberen und der unteren horizontalen oder hält
sie beide auseinander. In diesem Falle hat die vertikale Linie eine
Funktion gleichartig derjenigen, welche wir oben die zwischen zwei
vertikalen eingespannte Horizontale üben sahen.

Alle diese Möglichkeiten nun haben vor allem Bedeutung für die
Baukunst. Die Säule etwa stützt oder trägt. Oder sie richtet sich auf,
damit ein horizontales Gebälk sich schwebend darüber erhalte. Die
Beine von Tischen strecken sich gegen den Boden und halten die
Tischplatte in einer bestimmten Entfernung von diesem. Gewisse
romanische Säulen endlich sind zwischen oben und unten einge-
spannt und halten, was über und unter ihnen ist, auseinander. In
den beiden ersten Fällen ist der Ausgangspunkt der Tätigkeit unten,
im zweiten ist er oben, im dritten Falle in der Mitte.

Die Tätigkeiten in der vertikalen und in der horizontalen Richtung
verbinden sich als Komponenten zu einer einzigen Resultante in der
schrägen Linie. Je nach dem Grade der Schrägheit erscheint die eine
 
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