402 OLGA STIEGLITZ.
z. B. Mozarts Instrumentalmusik durch den Reichtum sinnfälliger Melo-
dien, das schöne Ebenmaß der Formen auch auf die musikalischen
Hörer der Gegenwart ihren Zauber aus, selten aber wird in ihrem
Innern dadurch mehr als ein »Spiel schöner Empfindungen« hervor-
gerufen werden. Findet aber keine stärkere Gefühlserregung statt, so
fehlt es an der Veranlassung, der Musik poetische Bilder hinzuzu-
fügen. Programme zu Mozartscher Musik sind daher nicht häufig
und pflegen über Allgemeinheiten wenig hinauszugehen *). In ungleich
stärkerem Maße haben Beethovens Instrumentalschöpfungen die Ein-
bildungskraft und die Federn von Musikfreunden und Kritikern in Be-
wegung gesetzt. Seinen Ideen nachzuspüren, wurde unter seinen
Schülern und unmittelbaren Nachfolgern eine Zeitlang fast als Sport
betrieben. In ähnlicher Weise haben sich neuere Musikenthusiasten
bemüht, den interessanten Grübeleien des sogenannten letzten Klas-
sikers, Johannes Brahms, auf die Spur zu kommen. So schrieb einst
Billroth über das Finale seiner ersten Sinfonie (C-moll Op. 68): »Was
nutzt die vollendet klare Schönheit des Hauptmotivs in seiner thema-
tisch geschlossenen Form. Zuletzt kommt doch wieder das Hörn
mit seinem schwärmerischen Sehnsuchtsschein wie in der Einleitung,
und alles zittert in Sehnsucht, Wonne und übersinnlicher Sinnlichkeit
und Seligkeit2).« Für eben diese Sinfonie soll aber M. Klinger das
Bild »Entführung des Prometheus« entworfen haben. Leider ist mir
nicht bekannt, für welche Kompositionen die vorhergehenden Blätter
des Zyklus »Brahms-Phantasie« wie »Evocation«, »Titanen«, »Nacht«
und andere bestimmt sind. Wäre es doch von hohem Interesse, die
genialen Nachschöpfungen des modernen Meisters bildender Künste
sowohl mit den musikalischen Originalen als auch mit deren künstle-
rischen Deutungen zu vergleichen.
Die wiederholt erwiesene Tatsache, daß ein und dasselbe Werk
von verschiedenen Personen sehr abweichende Auslegungen erfährt3),
') Nur zweien seiner Sinfonien hat die Nachwelt einen bestimmten Namen bei-
gelegt, der großen C-dur, die als Jupitersinfonie bekannt ist, und der Es-dur, die
man seinen Schwanengesang nennt. Zu letzterer hat neuerdings Fr. Stassen ein
farbiges Kunstblatt veröffentlicht: Ganymed wird durch den Adler zum Olymp ge-
tragen, wo ihn Jupiter mit entgegengestreckten Armen empfängt.
2) Brahms' Biograph H. Deiters (Sammlung musikalischer Vorträge von Graf
Waldersee) bezeichnet den letzten Satz dieser Sinfonie als Höhepunkt des Werkes
und sagt: »Nach langer Spannung setzt das Hörn mit der großen Terz entscheidend
ein und deutet die Lösung des Konflikts an, und nun tritt in wahrhaft grandiosem
Thema das Allegro ein; von allem Glänze des Orchesters ist dieser Schlußsatz ge-
tragen, der nach allen Kämpfen, Zweifeln, Hoffnungen die Siegesstimmung malt
und wie im Triumphzug vorüberschreitet« (S. 344). H. Reimann nennt diese erste
Sinfonie ein Epos, die zweite (Op. 73 D-dur) ein Märchen.
3) Ad. Kullak gibt im Schlußkapitel seiner »Ästhetik des Klavierspiels« acht ver-
z. B. Mozarts Instrumentalmusik durch den Reichtum sinnfälliger Melo-
dien, das schöne Ebenmaß der Formen auch auf die musikalischen
Hörer der Gegenwart ihren Zauber aus, selten aber wird in ihrem
Innern dadurch mehr als ein »Spiel schöner Empfindungen« hervor-
gerufen werden. Findet aber keine stärkere Gefühlserregung statt, so
fehlt es an der Veranlassung, der Musik poetische Bilder hinzuzu-
fügen. Programme zu Mozartscher Musik sind daher nicht häufig
und pflegen über Allgemeinheiten wenig hinauszugehen *). In ungleich
stärkerem Maße haben Beethovens Instrumentalschöpfungen die Ein-
bildungskraft und die Federn von Musikfreunden und Kritikern in Be-
wegung gesetzt. Seinen Ideen nachzuspüren, wurde unter seinen
Schülern und unmittelbaren Nachfolgern eine Zeitlang fast als Sport
betrieben. In ähnlicher Weise haben sich neuere Musikenthusiasten
bemüht, den interessanten Grübeleien des sogenannten letzten Klas-
sikers, Johannes Brahms, auf die Spur zu kommen. So schrieb einst
Billroth über das Finale seiner ersten Sinfonie (C-moll Op. 68): »Was
nutzt die vollendet klare Schönheit des Hauptmotivs in seiner thema-
tisch geschlossenen Form. Zuletzt kommt doch wieder das Hörn
mit seinem schwärmerischen Sehnsuchtsschein wie in der Einleitung,
und alles zittert in Sehnsucht, Wonne und übersinnlicher Sinnlichkeit
und Seligkeit2).« Für eben diese Sinfonie soll aber M. Klinger das
Bild »Entführung des Prometheus« entworfen haben. Leider ist mir
nicht bekannt, für welche Kompositionen die vorhergehenden Blätter
des Zyklus »Brahms-Phantasie« wie »Evocation«, »Titanen«, »Nacht«
und andere bestimmt sind. Wäre es doch von hohem Interesse, die
genialen Nachschöpfungen des modernen Meisters bildender Künste
sowohl mit den musikalischen Originalen als auch mit deren künstle-
rischen Deutungen zu vergleichen.
Die wiederholt erwiesene Tatsache, daß ein und dasselbe Werk
von verschiedenen Personen sehr abweichende Auslegungen erfährt3),
') Nur zweien seiner Sinfonien hat die Nachwelt einen bestimmten Namen bei-
gelegt, der großen C-dur, die als Jupitersinfonie bekannt ist, und der Es-dur, die
man seinen Schwanengesang nennt. Zu letzterer hat neuerdings Fr. Stassen ein
farbiges Kunstblatt veröffentlicht: Ganymed wird durch den Adler zum Olymp ge-
tragen, wo ihn Jupiter mit entgegengestreckten Armen empfängt.
2) Brahms' Biograph H. Deiters (Sammlung musikalischer Vorträge von Graf
Waldersee) bezeichnet den letzten Satz dieser Sinfonie als Höhepunkt des Werkes
und sagt: »Nach langer Spannung setzt das Hörn mit der großen Terz entscheidend
ein und deutet die Lösung des Konflikts an, und nun tritt in wahrhaft grandiosem
Thema das Allegro ein; von allem Glänze des Orchesters ist dieser Schlußsatz ge-
tragen, der nach allen Kämpfen, Zweifeln, Hoffnungen die Siegesstimmung malt
und wie im Triumphzug vorüberschreitet« (S. 344). H. Reimann nennt diese erste
Sinfonie ein Epos, die zweite (Op. 73 D-dur) ein Märchen.
3) Ad. Kullak gibt im Schlußkapitel seiner »Ästhetik des Klavierspiels« acht ver-