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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Conrad, Waldemar: Der ästhetische Gegenstand, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0110
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106 WALDEMAR CONRAD.

es ist für uns selbstverständlich völlig gleichgültig, ob diese Unvoll-
kommenheit von dem Spieler oder unserem eigenen Ohr oder der Ent-
fernung herrührt u. s. w. Nimmt dieselbe weiterhin zu, so können wir
schließlich dazu kommen, von einer uneigentlichen, quasibildlichen und
endlich gar quasisymbolischen Wiedergabe oder Gegebenheit des
Gegenstandes zu sprechen, wie wir das schon eingangs an dem Bei-
spiel der vierhändig gespielten und der gepfiffenen Symphonie an-
deuteten. Liegt die Unvollkommenheit in gewissen kleinen Nuancen
des Tempos, der Intensität u. s. w., so spricht man von mangelndem
oder fehlerhaftem »Ausdruck« und sagt auch ähnlich wie in den vor-
erwähnten Fällen, daß jene Beethovensonate von Kinderhand genüge,
um uns ein »Bild« von dem gemeinten Kunstwerk zu geben.

Dann haben wir hier eine Reihe verschiedener Fälle, wo wir von
Unvollkommenheiten der Realisation des Gegenstandes, dagegen also
nicht von Wiedergabe einer anderen (etwa ungünstigeren) »Ansicht«
desselben reden können.

Der Gegensatz läßt sich analogisieren durch den Gegensatz einer
schlechten Photographie einer Statue in deren Hauptansicht und einer
(guten) Photographie von einem anderen, weniger günstigen Stand-
punkte aus.

Bei jener Beethovensonate von Kinderhand sagt man aber auch
wohl entschiedener: »Der eigentliche Beethoven ist es aber nicht«. Und
dieser Ausdruck führt zu einer zweiten Klasse möglicher Auffassungen.
— Man kann nämlich die Sachlage auch so ansehen, als ob das Kind
vollkommen realisiert habe, was ihm vorschwebte (ob das wirklich der
Fall ist, darauf kommt es uns natürlich wieder nicht an) und kann
diesen seinen musikalischen Gegenstand dem uns vorschwebenden
gegenüberstellen.

Man kann also sagen, was hier realisiert ist, ist im engsten Sinne
nicht »derselbe« ästhetische Gegenstand. — Nun wird man ihn frei-
lich auch nicht einen schlechthin »anderen« nennen, sondern von »der-
selben« Sonate in dem Sinne der vagen Gattungsbegriffe des ge-
wöhnlichen Lebens reden, wo unter eine Gattung gefaßt wird, was im
großen Ganzen dasselbe ist. — Ebenso heißt auch die unter Über-
schreitung der Irrelevanzgrenze in irgend eine andere Tonart transpo-
nierte Melodie noch »dieselbe«, aber ebenfalls nicht mehr als indivi-
duelle, als niederste spezifische Differenz, sondern als eine Gattung.
Wir sprechen also auch von »der« Melodie »Heil dir im Siegerkranz«
als einer Gattung, die, auf der »Tonlinienform« basierend, alle jene
niedersten spezifischen Differenzen (die Melodie in den verschiedenen
Tonarten) umfaßt, die durch die ganze Tonskala hin verschiebbar ist,
die aber auch von den verschiedensten Instrumenten gespielt werden
 
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