GOTTFRIED SEMPERS ÄSTHETISCHE GRUNDANSCHAUUNGEN. 231
totale Form eines Bauwerkes, der Natur des betreffenden Materiales
entsprechend, aus einzelnen für sich bestehenden, zur Existenz und
zum Zweckgebrauche der ganzen Baulichkeit notwendigen und dem-
entsprechend in der Räumlichkeit angeordneten und verteilten Körpern.«
— »Nach ihrer struktiven Vereinigung zu einer totalen Form erscheinen
alle diese Strukturteile in einem Ausdrucke, welcher sowohl den inneren
Begriff, die Wesenheit oder die mechanische Funktion eines jeden für
sich, als auch die wechselseitige Begriffsverbindung — junktur — aller
im Ganzen auf das Anschaulichste und Prägnanteste darstellt. Dies ist
das Dekorative oder die Kunstform jedes Teiles.« Und zwar liegt
das Verhältnis von Kern- und Kunstform so, »daß man sich zuerst
für die vorgeschriebenen Raumgrenzen — statisch notwendigen Körper-
proportionen — einen Körperkern oder eine Kernform in einem solchen
Formenschnitte — Schema — vorbereitet denkt, welcher in seiner Nackt-
heit schon die tektonische Funktion vollkommen erledigt. Alsdann
aber diesem Kerne solche Extremitäten angefügt oder demselben gleich-
sam mit einer aus solchen Formen gebildeten Hülle bekleidet zeigt,
welche eben seinen inneren Begriff in allen Beziehungen auf die
prägnanteste Weise erklären. Dies ist die dekorative Charakteristik,
die Ornamenthülle des Kernschema, welche in ihrer Kontinuität aus
einzelnen begriffsanalogen Formenschematen gebildet wird.« — »Nach
solcher Ansicht verfährt die antike Tektonik mit sehr richtigem Sinne
so, daß sie die dekorative Bekleidung des Kernes als struktiv nicht
notwendig von dem struktiv notwendigen Kernvolumen desselben
ganz wahrnehmbar sondert und sie wie angelegt oder von außen
angefügt darstellt. Indem man hierdurch das Wirkliche vom Schein-
baren trennt und die Dekoration als das, was sie in der Tat nur
sein soll, als begriffssymbolisierende Hülle des wirklich fungieren-
den Kernes vor Augen legt .. .« Aus diesen Stellen, die beliebig ver-
mehrt werden können, geht zur Genüge hervor, daß Bötticher eine
rein verstandesmäßige Verbindung der Kernform mit der Kunstform
herstellt. Nach seiner Ansicht ist die Kunstform der Kernform ganz
unabhängig umgehüllt mit der Aufgabe, diese »in ihrer Wesenheit«
verständlich zu machen, ihre materielle Funktion zu demonstrieren
(Tektonik 1. Aufl. Einleitung S. 4 ff.).
Wie verhält sich nun Semper zu dieser Frage und zu Böttichers
Auslegung des Problems? Streiter (Karl Böttichers Tektonik der Hel-
lenen S. 43) weist darauf hin, daß Semper Böttichers Theorie nicht
prinzipiell bekämpft habe, sondern nur, soweit sie seinen eigenen An-
schauungen über den Ursprung und die Entwickelung der tektonischen
Formen zuwiderlaufe. In der Tat gehört der Unterschied von Kern-
und Kunstform, wie schon aus der Bekleidungstheorie hervorgeht, zu
totale Form eines Bauwerkes, der Natur des betreffenden Materiales
entsprechend, aus einzelnen für sich bestehenden, zur Existenz und
zum Zweckgebrauche der ganzen Baulichkeit notwendigen und dem-
entsprechend in der Räumlichkeit angeordneten und verteilten Körpern.«
— »Nach ihrer struktiven Vereinigung zu einer totalen Form erscheinen
alle diese Strukturteile in einem Ausdrucke, welcher sowohl den inneren
Begriff, die Wesenheit oder die mechanische Funktion eines jeden für
sich, als auch die wechselseitige Begriffsverbindung — junktur — aller
im Ganzen auf das Anschaulichste und Prägnanteste darstellt. Dies ist
das Dekorative oder die Kunstform jedes Teiles.« Und zwar liegt
das Verhältnis von Kern- und Kunstform so, »daß man sich zuerst
für die vorgeschriebenen Raumgrenzen — statisch notwendigen Körper-
proportionen — einen Körperkern oder eine Kernform in einem solchen
Formenschnitte — Schema — vorbereitet denkt, welcher in seiner Nackt-
heit schon die tektonische Funktion vollkommen erledigt. Alsdann
aber diesem Kerne solche Extremitäten angefügt oder demselben gleich-
sam mit einer aus solchen Formen gebildeten Hülle bekleidet zeigt,
welche eben seinen inneren Begriff in allen Beziehungen auf die
prägnanteste Weise erklären. Dies ist die dekorative Charakteristik,
die Ornamenthülle des Kernschema, welche in ihrer Kontinuität aus
einzelnen begriffsanalogen Formenschematen gebildet wird.« — »Nach
solcher Ansicht verfährt die antike Tektonik mit sehr richtigem Sinne
so, daß sie die dekorative Bekleidung des Kernes als struktiv nicht
notwendig von dem struktiv notwendigen Kernvolumen desselben
ganz wahrnehmbar sondert und sie wie angelegt oder von außen
angefügt darstellt. Indem man hierdurch das Wirkliche vom Schein-
baren trennt und die Dekoration als das, was sie in der Tat nur
sein soll, als begriffssymbolisierende Hülle des wirklich fungieren-
den Kernes vor Augen legt .. .« Aus diesen Stellen, die beliebig ver-
mehrt werden können, geht zur Genüge hervor, daß Bötticher eine
rein verstandesmäßige Verbindung der Kernform mit der Kunstform
herstellt. Nach seiner Ansicht ist die Kunstform der Kernform ganz
unabhängig umgehüllt mit der Aufgabe, diese »in ihrer Wesenheit«
verständlich zu machen, ihre materielle Funktion zu demonstrieren
(Tektonik 1. Aufl. Einleitung S. 4 ff.).
Wie verhält sich nun Semper zu dieser Frage und zu Böttichers
Auslegung des Problems? Streiter (Karl Böttichers Tektonik der Hel-
lenen S. 43) weist darauf hin, daß Semper Böttichers Theorie nicht
prinzipiell bekämpft habe, sondern nur, soweit sie seinen eigenen An-
schauungen über den Ursprung und die Entwickelung der tektonischen
Formen zuwiderlaufe. In der Tat gehört der Unterschied von Kern-
und Kunstform, wie schon aus der Bekleidungstheorie hervorgeht, zu