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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0385
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ÜBER VERSMELODIE. 3g}

6.

Ich kehre zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen zurück. Es
erscheint mir da von besonderem Interesse, ihre Ergebnisse den zu-
erst von Sievers aufgeworfenen und zum Teil auch beantworteten
Fragen gegenüberzustellen.

»Wenn wir Poesie vortragen,« sagt nämlich Sievers1), »so
melodisieren wir sie, wie alle gesprochene Rede. Woher aber
stammt in letzter Linie die Melodie, die wir so dem Texte beigesellen?
Tragen wir sie lediglich als unser Eigenes in ihn hinein, oder ist
sie bereits in ihm gegeben, oder doch so weit angedeutet, daß sie
beim Vortrage sozusagen zwangsweise aus uns herausgelockt
wird? Und wenn sie so von Haus aus schon dem Text innewohnt,
wie kommt sie in ihn hinein und inwiefern kann sie wieder
auf den Vortragenden einen Zwang zu richtiger Wiedergabe
ausüben?«

Und seine »natürlich nur in annähernd fester Form« gegebene
Antwort auf diese Fragen lautet:

»Daß der einzelne in das einzelne Gedicht oder den einzelnen
Passus eine individuelle Auffassung hineintragen und es demgemäß
melodisieren kann, ist bekannt und zugegeben, desgleichen, daß er es
oft wirklich tut. Ebenso sicher ist aber auch, daß die Mehrzahl der
naiven Leser, die ein Gedicht oder eine Stelle unbefangen auf sich
wirken lassen, doch in annähernd gleichem Sinne melodisieren,
vorausgesetzt, daß sie Inhalt und Stimmung wenigstens instinktiv zu
erfassen vermögen und den empfangenen Eindruck auch stimmlich
einigermaßen wiederzugeben imstande sind. Diese Gleichartig-
keit der Reaktion aber weist sichtlich auf eine Gleichartigkeit eines
beim Lesen unwillkürlich empfundenen Reizes hin, dessen Ursachen
außerhalb des Lesers und innerhalb des Gelesenen liegen
müssen. — Wir dürfen also überzeugt sein, daß jedes Stück Dichtung
ihm fest anhaftende melodische Eigenschaften besitzt, die
zwar in der Schrift nicht mit symbolisiert sind, aber vom Leser doch
aus dem Ganzen heraus empfunden und beim Vortrag entsprechend
reproduziert werden. Und kann es dann zweifelhaft sein, daß diese
Eigenschaften vom Dichter selbst herrühren, daß sie von ihm in
sein Werk hineingelegt worden sind?«

Diese Ausführungen gehen mit den Ergebnissen meiner vorstehen-
den Erörterungen nur in einem einzigen Punkte auseinander: in bezug
auf die Begriffsbestimmung des Ausdrucks Melodie. Sievers ver-

') »Über Sprachmelodisches« S. 77.
 
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