ÜBER VERSMELODIE. 2Q5
sehen Lautfarben keineswegs zum Ausdruck gelangen, daher auch von
ihrer symbolischen Bedeutung unabhängig sind. Manches Mal, aber
nicht allzuhäufig, benützt der Dichter die vokalischen Lautfarben für
seine Zwecke, insbesondere dann, wenn er durch Naturlaute eine
Nachahmung von Naturerscheinungen bezweckt (Onomatopöie), und in
diesen Ausnahmefällen kommt ihnen symbolische Bedeutung zu. Die
emotionellen Klangfarbenvarianten dagegen sind ein bleibendes und
im Sprachklanggebilde jeder Dichtung ununterbrochen fortwirkendes
Element, denn sie dienen dem unmittelbaren Ausdruck der Gemüts-
bewegungen in ihren feinsten Regungen und Abarten.
Die Schlußfolgerungen aus diesen Betrachtungen ergeben sich von
selbst.
Alle von Sievers aufgestellten Hypothesen sind als zutreffend er-
wiesen, sofern nur die grundsätzliche Voraussetzung, die Begriffs-
bestimmung des Wortes »Melodie« von Tonhöhenfolge auf Klang-
farbenspiel transponiert wird.
So ist insbesondere, diese Transponierung vorausgesetzt, die von
Sievers aufgestellte Hypothese erwiesen, daß »jedes Stück Dich-
tung ihm fest anhaftende melodische Eigenschaften« besitzt,
die »vom Dichter selbst herrühren«. Schon in dem Augenblicke,
da auch auf experimentellem Wege nachgewiesen wurde (Eggert), daß
Tonhöhenfolgen eine Charakteristik individueller Sprechweise sind,
die nicht nur von Sprache zu Sprache, sondern von Mensch zu Mensch
wechselt, kam die Ansicht, daß bestimmte Tonhöhenfolgen jeder Dich-
tung immanent anhaften und vom Dichter herrühren, in offenkun-
digen Widerspruch mit dieser Erkenntnis. Der Widerspruch ist be-
seitigt, wenn man statt von >melodischen«, von, sagen wir: »chro-
matischen« Eigenschaften spricht, also nicht von Tonhöhen-, sondern
von Klangfarbenbewegungen. Denn ebenso, wie sich die Mienen-
sprache zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleich blieb, wie alle
Gemütsbewegungen stets den gleichen, ganz bestimmten Ausdruck im
Antlitz eines Europäers oder Hottentotten, eines Fürsten oder Prole-
tariers, eines Greises oder Kindes finden (Piderit), in ganz demselben
Maße ist auch der mit den mimischen Gesichtsbewegungen in un-
lösbarem Zusammenhang stehende Ablauf emotioneller Klangfarben-
varianten die allgemein verständliche, unabänderlich ewige Sprache der'
Menschheit geblieben. Daß aber diese Ewigkeitswerte menschlichen
Seelenlebens der Dichtung immanent anhaften und als solche nicht erst
vom Vortragenden in sie hineingetragen werden, sondern vom Dichter
selbst herrühren, und daß sie als etwas fest und unabänderlich Ge-
sehen Lautfarben keineswegs zum Ausdruck gelangen, daher auch von
ihrer symbolischen Bedeutung unabhängig sind. Manches Mal, aber
nicht allzuhäufig, benützt der Dichter die vokalischen Lautfarben für
seine Zwecke, insbesondere dann, wenn er durch Naturlaute eine
Nachahmung von Naturerscheinungen bezweckt (Onomatopöie), und in
diesen Ausnahmefällen kommt ihnen symbolische Bedeutung zu. Die
emotionellen Klangfarbenvarianten dagegen sind ein bleibendes und
im Sprachklanggebilde jeder Dichtung ununterbrochen fortwirkendes
Element, denn sie dienen dem unmittelbaren Ausdruck der Gemüts-
bewegungen in ihren feinsten Regungen und Abarten.
Die Schlußfolgerungen aus diesen Betrachtungen ergeben sich von
selbst.
Alle von Sievers aufgestellten Hypothesen sind als zutreffend er-
wiesen, sofern nur die grundsätzliche Voraussetzung, die Begriffs-
bestimmung des Wortes »Melodie« von Tonhöhenfolge auf Klang-
farbenspiel transponiert wird.
So ist insbesondere, diese Transponierung vorausgesetzt, die von
Sievers aufgestellte Hypothese erwiesen, daß »jedes Stück Dich-
tung ihm fest anhaftende melodische Eigenschaften« besitzt,
die »vom Dichter selbst herrühren«. Schon in dem Augenblicke,
da auch auf experimentellem Wege nachgewiesen wurde (Eggert), daß
Tonhöhenfolgen eine Charakteristik individueller Sprechweise sind,
die nicht nur von Sprache zu Sprache, sondern von Mensch zu Mensch
wechselt, kam die Ansicht, daß bestimmte Tonhöhenfolgen jeder Dich-
tung immanent anhaften und vom Dichter herrühren, in offenkun-
digen Widerspruch mit dieser Erkenntnis. Der Widerspruch ist be-
seitigt, wenn man statt von >melodischen«, von, sagen wir: »chro-
matischen« Eigenschaften spricht, also nicht von Tonhöhen-, sondern
von Klangfarbenbewegungen. Denn ebenso, wie sich die Mienen-
sprache zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleich blieb, wie alle
Gemütsbewegungen stets den gleichen, ganz bestimmten Ausdruck im
Antlitz eines Europäers oder Hottentotten, eines Fürsten oder Prole-
tariers, eines Greises oder Kindes finden (Piderit), in ganz demselben
Maße ist auch der mit den mimischen Gesichtsbewegungen in un-
lösbarem Zusammenhang stehende Ablauf emotioneller Klangfarben-
varianten die allgemein verständliche, unabänderlich ewige Sprache der'
Menschheit geblieben. Daß aber diese Ewigkeitswerte menschlichen
Seelenlebens der Dichtung immanent anhaften und als solche nicht erst
vom Vortragenden in sie hineingetragen werden, sondern vom Dichter
selbst herrühren, und daß sie als etwas fest und unabänderlich Ge-