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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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Viëtor, Karl: Der Bau der Gedichte Hölderlins
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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0344
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XII.

Der Bau der Gedichte Hölderlins.

Von
Karl Vietor.

In der sogenannten Stiluntersuchung hat die moderne Literatur-
wissenschaft eine komplizierte Methode ausgebildet, mit der sie den
sprachlichen Träger der Dichtung zu analysieren und zu bestimmen
sucht. Die Zahl derartiger Untersuchungen ist Legion, aber man kann
nicht sagen, daß ihre Ergebnisse die Wissenschaft dem Ziele wesent-
lich näher gebracht hätten, das sie heute mehr und mehr lockt: der
Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen dem, was man dichterische
Form und was man Inhalt der Dichtung nennt. Diese nur be-
grifflich herzustellende Trennung wird vom Betrachter zu gern in das
Wesen des Kunstwerks selbst verlegt, dadurch arbeitet die ganze
Untersuchung unter einer grundfalschen Voraussetzung, und die Er-
gebnisse sind nichts weiter als Teilergebnisse, die man, unkundig des
geistigen Bandes, in ratloser Hand hält. Manche derartige Unter-
suchung begnügt sich gar mit der bloßen Feststellung von Eigen-
tümlichkeiten der Dichtung, ohne diese Vorarbeit erst sinnvoll zu
machen durch den weiteren Schritt, der zu der Frage führen würde:
was sagt diese Beobachtung aus über die besondere Beschaffenheit
der betrachteten Dichtung, was über das individuelle Wesen der dichte-
rischen Persönlichkeit, aus deren schöpferischer Totalität sie floß? Es
muß verlangt werden, daß diese Art feststellender Analyse aufge-
geben wird zugunsten einer neuen Art, die sich ihren Stoffkreis viel-
leicht kleiner zieht, aber dann nicht an der Peripherie bleibt, sondern
es unternimmt, zum Zentrum des betreffenden Kunstwerks, endlich
in das der Persönlichkeit seines Schöpfers vorzudringen.

Das kann aber nur gelingen, wenn die Bedingungen der sogenannten
dichterischen Form aus dem sogenannten Gehalt abgeleitet werden,
und wiederum der Zusammenhang zwischen dem wechselnden Kunst-
werk und der konstanten künstlerischen Individualität des Dichters
hergestellt wird. Der Weg des analytischen Verfahrens geht dabei von
Außen_nach .Innen: aus den Einzelbeobachtungen an den Trägern der
dichterischen Idee ergeben sich Aufschlüsse, die in synthetischer Ver-
 
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