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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0506
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BESPRECHUNGEN.

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Stück beherrschen bis zu Ibsens Realismus. Mit Ibsens Figuren läßt sich das alte
Fach nicht mehr erfüllen. Ist Oswald Alwing noch schlechthin -Liebhaber« oder
gar ein junger »Held«? Ist Hedda Gabler oder Ella Rentheim noch »Salondame«?
Man besetzt zwar noch ungefähr nach den alten Fächern bis der moderne Regis-
seur erscheint und aus der Individualität der modernen Rollen die »individuelle
Besetzung« zur Konsequenz macht. Es gibt keine Fächer, fast keine Haupt- und
Nebenrollen mehr: alles wird Charakterrolle. Das «Fach« war das Privileg des Einzel-
schauspielers. Das »Ensemble« ist das Einheitsideal des Spielleiters. Der Regisseur
ist der geborene Feind des Rollenfaches. Doerry zieht die Entwicklungslinie mit
Sicherheit nach guten Belegen. Man hätte allerdings gerne den Nachweis der ersten
»Sentimentalen«, »munteren Liebhaberinnen«, »Naturburschen« und dergleichen
etwas genauer gewünscht. Auch wäre ein Versuch, die heutige Verteilung der Rollen-
fächer im praktischen Betrieb einigermaßen festzustellen, erwünscht gewesen, da
das 19. Jahrhundert ja schließlich nicht nur mit der Jahreszahl 1900 aufhört, sondern
bis zur expressionistischen Krise literarisch weiter dauert. Auf sozialem und recht-
lichem Gebiet führt Doerry denn auch sein Thema bis zur Gegenwart.

Mag das Rollenfach in seinen alten Formen auch erledigt sein, so lebt es prak-
tisch in seinen Bezeichnungen, in den Ansprüchen der Schauspieler und zur Orientie-
rung des Direktors dennoch weiter. Die Vertragsformulare des Bühnenvereins haben
es 1876 zwar abgeschafft, aber seit 1919 wird zugunsten des Schauspielers eine
Fachangabe wieder zugelassen — so unbestimmbar die modernen »Fächer« scheinen
mögen. Immer und ewig bleiben gewisse ewige Typen der Alten und der Jungen,
der Pathetischen und der Komischen bestehen und bilden nach den äußeren und
inneren Eigenschaften der Schauspieler ihre Rollenfächer. Nur die Bezeichnungen,
die Rechtsansprüche und die künstlerischen Geltungen gewisser Rollenbezirke wech-
seln. Aber das Fach ist eigentlich immer gegeben. Wohl ist Doerry durchaus im
Recht mit seiner Behauptung, daß seit dem Aufkommen der modernen Regie das
Rollenfach als »künstlerisches Prinzip« aufgehört habe. Vielleicht aber sind wir
nur in der Übergangskrise von den Fächern der alten Gesellschaftskomödie und
Heroen-Tragödie zu den modernen Fächern des »technischen« oder des »sozialen
Helden«, des »ekstatischen Liebhabers-, des Girls, der Dirne, des kurzhaarigen
Mannweibs usw. Doerrys wissensreiches Buch muß bald seine modernste Ergänzung
finden.

Frankfurt a. M. Bernhard Diebold.

Alfred Holtmont, Die Hosenrolle. Variationen über das Thema »Das Weib
als Mann«. München, Meyer u. Jessen, 1925. 247 S.
In seiner klugen und fördernden Untersuchung über das »Rollenfach im deut-
schen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts« (1913) hat B. Diebold auch die Hosen-
rolle oder, wie man in dem behandelten Zeitabschnitt sagte, die verkleidete Manns-
rolle« besprochen, indem er auf die commcdia deW arte, auf französische und spa-
nische Verkleidungsstücke des 17. Jahrhunderts, auf das Beispiel der Neuberin hinwies.
Die Chr. Heinr. Schmidsche »Chronologie des deutschen Theaters« sprach 1775
davon, daß die Hosenrolle »immer ein Lieblingsgeschmack der deutschen Schau-
spielerinnen gewesen« sei; sie ist also ein Gegenstand, der Sonderuntersuchung
durchaus wert. Holtmont, der diese Untersuchung anstelll, betrachtet die Sache
allerdings nicht ausschließlich vom theaterwissenschaftlichen Standpunkt aus, son-
dern will »im besonderen die Wechselbeziehungen zwischen der gesellschaftlichen
Betätigung der Frau und ihrer körperhaften Aiisdrucksform« (S. 212) beachten, so
daß er nahezu in dem ersten Viertel des Buches der Geschlechtswandlung in der
 
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