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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Sternberger, Dolf: Gedanken über die zeitgenössische Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0286
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272

BEMERKUNGEN.

Versuche, das Kollektive in irgendeinem Sinn zur kulturellen Form zu bringen,
in den Schatten stellt. Unser Phänomen ist geradezu in dieser Hinsicht zu kon-
trastieren mit der Idee der Volksbildung, insoweit sie wirklich eine gehaltvolle
Vorstellung von „Bildung" noch hat. Volksbildung kann niemals ein Volk bilden,
nicht weil das Medium und die Materie, die ihr gerade heute im historischen Augen-
blick zur Verfügung ist, dem Wesen nach individualistisch wäre, sondern weil ihrem
Sinn nach Bildung dieses Freiwerden auf die gegenwärtige Aufgabe hin gar-
nicht kennt, in dem uns die Möglichkeit des Sichtbarwerdens von Masse zu grün-
den scheint, weil Bildung vielmehr im Gegenteil immer schon in Formen hinein-
führt, in schon Geformtes, Gerundetes, wenngleich sie auch darauf gerichtet sein
mag, die einzelnen Formen immer wieder zu sprengen.

Als die zentrale Frage erhebt sich nunmehr die, von was denn eigentlich frei
gemacht wird, was das Verdeckende war, dessen Abstoßung die unmittelbare Ein-
richtung auf die Aufgabe bzw. das Sichtbarwerden solcher Aufgabe überhaupt er-
möglichte.

Von der Seite der Wohngesinnung scheint mir hier ein Wort Le Corbusiers
treffend hinzuweisen: „Die Maschine zum Wohnen (wir sagen ganz einfach: Das
Wohnhaus) hat nichts gemein mit dem Haus als Biographie!"

Das Haus als Biographie. Das weist auf das leitende Motiv, das freilich nie
verwirklichte und nie zu verwirklichende Leitmotiv derjenigen Tendenzen in der
Wohngesinnung hin, die die Entdeckung des erörterten Sinnes von Wohnen und die
Freilegung der Aufgabe im strengen Sinn verhinderten. Wenn das Haus Bio-
graphie sein soll, dann soll es etwas „ausdrücken" — die Ausdruckskategorie ist
hier von entscheidender Bedeutung! — es soll ein individuelles Geschehen in der
Form spiegeln, es soll gleichsam die Erzählung, die Erinnerung dieses individuellen
Geschehens konkretisieren. Aber dies schon im Vorhinein sozusagen, denn das
Haus ist ja keine Erzählung. Denn das Haus ist nicht in Bewegung. Darum
gleitet dieser Wille zur Biographie, zum Ausdruck, im Effekt ab in eine einmalige
Bestimmung dessen, was diesem Individuellen gemäß sein würde, gleichsam in
einer Fixierung dessen, was seiner Natur nach Geschehen und Bewegung ist, zur
statischen „individuellen Eigentümlichkei t", und in einer Vor-
wegnahme dessen, was nur in der Erinnerung, der echten Reflexion, d. i. Zu-
rückwendung, Gehalt haben kann. Diese einmalige Bestimmung — die Bestimmung
kann ja faktisch meist nur eine auswählende sein — dessen, was der Eigentümlich-
keit zukomme, ist die Betätigung des Geschmacks. Der Geschmack entspringt,
wie mir scheint, in dieser Haltung, die sich selbst als fixes Bild vorweggenommen
schon kennt, schon hat, und nun von diesem Grunde her, der ihr selbst völlig sicher
erscheint, auswählt; gerade diese Sicherheit ist es, die das Ausdrücken zu einem
bloßen unproduktiven Auswählen reduziert. Dieser degenerierte Ausdruckswille,
der Geschmack, ist es, der innerhalb der Wohngesinnung den Blick auf den wah-
ren Sinn des Wohnens als des Aufgehens von Dasein im Bezugsganzen des Hauses
verstellt. Mit dieser Charakteristik des Geschmacks und der Deutung seiner Wur-
zel, des Ausdruckswillens als der notwendig unwahren, fixierenden Vor-
wegnahme erinnernder Betrachtung glauben wir den gesamten Vorstellungskomplex,
der sich in den Wendungen von der „persönlichen Atmosphäre" und dergl. selbst
begreift, andeutend erfaßt zu haben.

Von der Seite des schaffenden Architekten her zeigt sich im Grunde ein ganz
entsprechendes Problem. Es soll versucht werden, dies kurz zu explizieren, um
dann das, was beidem, dem Wohnen und dem Bauen, zum Grunde liegt, noch ein-
mal zu verstehen und zu umreißen.
 
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