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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Dessoir, Max: Die Rede als Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0338
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MAX DESSOIR

gegen beachtet werden muß, das sind jene Verschiedenheiten im Ver-
halten, die sich aus der Größe der Gruppe ergeben. Lauschen nur drei
Personen dem Redner, so ist die Stimmung anders, als wenn fünfzig oder
gar tausend beisammen sind. Innerhalb der kleinsten Gruppen spinnen
sich Fäden von jedem Einzelnen zum Redner, bei einer mittleren Zahl
tritt schon die Gruppe als solche in ein Verhältnis zu ihm, bei der Masse
hingegen sind die Innenbeziehungen der ihr zugehörigen Einzelnen zu-
einander am wichtigsten. Hieraus ergeben sich Unterschiede in der Ton-
art der Rede. Sie kann im ersten Fall sehr persönlich und herzlich sein;
im zweiten Fall gilt es, an den Gedanken diejenigen Eigenschaften her-
auszuheben, die auf die einen und die andern in dieser Zuhörerschaft über-
zeugend wirken, solche Gefühle und Willensrichtungen in Tätigkeit zu
setzen, die bei den meisten Gruppenangehörigen als vorhanden anzuneh-
men sind. Gegenüber einer Masse jedoch kommt es darauf an, die sehr
verschiedenartigen Hörer so zu verschmelzen, daß sie einheitlich den For-
derungen der Rede gerecht werden. Die Vielen müssen gewissermaßen zu
einer geschlossenen Persönlichkeit werden, die natürlich an Feinheit und
Tiefe des Denkens sich nicht mit einer durchgebildeten Einzelperson
messen kann. Eine geistige Pegelsenkung in dieser aus tausend Köpfen
bestehenden Person läßt sich nicht leugnen, sie bedeutet aber nicht das-
selbe, wie wenn beispielsweise von den tausend Einzelmenschen der
gleiche Geldbetrag erhoben werden soll. In diesem Falle nämlich müssen
sich alle nach dem Ärmsten richten, im Hinblick jedoch auf die seelische
und geistige Höhe kann der Unterste gelegentlich emporgerissen werden.
Die Volksrede entspricht einem Bühnenbild, das auf weite Entfernung
wirken soll, sie vereinfacht, zeigt große, ja grobe Züge, und sie kann
dabei in ihrem Stil ebenso kunstgerecht sein wie ein Schmuckbildchen in
dem seinen.

Unter einem neuen, der Ästhetik vertrauten Gesichtspunkt erscheint
der Zuhörer, sobald man Art und Grad seiner Einfühlung in den Redner
prüft. Mancher fühlt sich ein bis zur Selbstvergessenheit. Er erlebt den
Redner sozusagen in der ersten Person: die Grenze zwischen Ich und Du
ist kaum noch spürbar. Dies geschieht am ehesten bei einem glühend ver-
ehrten Redner: der kann schließlich wie Garrick mit dem Aufsagen des
ABC zu Tränen rühren, wenn er nur selber davon ergriffen scheint. Ein
anderer Hörer versteht die Gedanken und Absichten des vor ihm Stehen-
den als die eines fremden Menschen; er erlebt ihn in der dritten Person:
„jetzt spricht er aufrichtig, jetzt sucht er etwas zu verbergen." Die dritte
Möglichkeit ist die, daß der Redner gar nicht in das Bewußtsein des Hörers
tritt, weil die Sache alle Kräfte an sich zieht. Bei wissenschaftlichen Vor-
trägen darf in der Tat der Sprechende zum unmerkbaren Vermittler der
geistigen Sachverhalte und der Hörende zu ihrem unmittelbaren Empfän-

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