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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Mutius, Gerhard von: Das Kunstwerk als Vorbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0112
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GERHARD VON MUTIUS

dem Gegenstand des ästhetischen Interesses etwas wesentlich anderes,
als es irgend ein Gegenstand unserer praktischen Erfahrung sein kann,
in dem immer auch ein feindlicher Widerstand steckt. Der angeschaute
Gegenstand, in dem das Subjekt ganz aufgeht, ist irgendwie Vorbild:
„In was Du liebst, in das wirst Du verwandelt werden". Jenes ästhetische
Angezogenwerden des Subjekts durch das Objekt ist eine Art Liebe. Der
Künstler bekennt sich zu ihr und will auch andere, die Beschauer, durch
sein Werk in den besonderen Bann dieses Liebeserlebnisses hineinziehen.

In einer doppelten Weise steckt also im Kunstwerk ein Vorbild. Primär
will sich der Künstler und sekundär soll sich der Beschauer in den ästhe-
tisch aufgefaßten Gegenstand verwandeln. Das ist der eigentliche innere
Bezirk der Kunst, die uns das Einswerden mit dem Gegenstand vorleben
und uns dazu erziehen möchte. Dann aber bedeutet im Rahmen unserer
allgemeinen alltäglichen Erfahrung die Statue, das Bild, das Gedicht,
die musikalische Melodie eine Aufforderung, sich ihres besonderen Sinn-
und Gefühlsgehalts zu bemächtigen, durch Verstehen ihn zu assimilieren.
Diese Aufforderung ist gewissermaßen das Tor, das in den Tempel der
Kunst führt. Auch der einzelne materielle Kunstgegenstand erhebt sich
dadurch über seine bescheideneren Brüder, daß er, anstatt sich zur
praktischen Benutzung anzubieten — als Bild mit einem fordernden An-
spruch — also in gewissem Sinne als ein Vorbild — an uns herantritt.

Natürlich ist das Kunstwerk daneben auch immer in irgend einer
Form ein Nachbild. Auch die Phantasie kann nur mit den Gegebenheiten
der Welt spielen, nicht sich von ihnen lösen. Das Material der Kunst
kann kein anderes sein, als das unserer allgemeinen Erfahrung, der
allgemeinen Lebensreize. Das Leben ist ein Wechselspiel von Reiz und
Reizempfänglichkeit. Im Reiz als der objektiven Komponente unserer
Erfahrung steckt der Gegenstand in statu nascendi. Als Nachbild bleibt
das Kunstwerk einem Gegenstand verhaftet und Mitteilung eines Gegen-
ständlichen, das auch außerhalb des ästhetischen Zauberbannes einen
Sinn, eine Bedeutung hat, ein Interesse wachrufen würde. Dadurch nun
aber, daß der Mensch der Lockung des Reizes zum praktischen Handeln,
zum zugreifenden Genuß nicht folgt, daß er verzichtet, um den Lebens-
reiz als solchen im Kunstwerk festzuhalten und sich seiner ohne Trübung
zu erfreuen, erhebt sich erst über dem wechselnden Gefallen das dauernd

systematische Abhandlungen enthält, bringen wir hier diejenige, die den Haupt-
gedanken des Buches programmatisch herausstellt. Ein zweites Kapitel: „Das Kunst-
werk als Unschuld und Gefahr" ist bereits als Broschüre im Verlag „Die Runde",
Berlin 1936, gedruckt. Außerdem enthält das Manuskript unter dem Übertitel „An-
schauung" eine Anzahl spezieller Essays, die die Hauptgedanken des Buches an
Einzelfällen illustrieren. Auch von diesen Essays bringen wir zunächst einige Proben
als „Bemerkungen". Weitere Teile des Manuskripts sollen später folgen.
 
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