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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zweiter Kongreß für Ästhethik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, 16.-18. Oktober 1924 — 19.1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.3819#0177
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170 GERHARD GESEMANN.

Die moderne psychiatrische, medizinische Psychologie ist es, deren
Methode und Resultate von jenen großen russischen Psychologen durch
intuitive Selbst- und Fremderkenntnis zu einem bedeutenden Teile vor-
weggenommen sind. Das gilt nicht nur für die Kunstwerke dieser
Männer, sondern auch für ihre privaten und kritisch-publizistischen
Äußerungen. Ich sehe dabei natürlich vom rein Stofflichen und rein
Inhaltlichen ganz ab {etwa von der Darstellung epileptischer Zustände
und Charaktere bei Dostojevskij oder von der Darstellung schizo-
phrener Prozesse bei Gogol und Dostojevskij oder von den Beschrei-
bungen der Sexualverdrängung und Sexualbekämpfung bei Tolstoj), —
ich sehe also vom rein Stofflichen ganz ab und lege das Schwer-
gewicht auf die Tatsache, daß die Art und Weise ihrer Seelenanalyse,
die Methode und ihre Ergebnisse, die allergrößte Verwandtschaft mit
unserem heutigen medizinisch-charakterologischen Denken aufweisen.
Ich erinnere bei dieser Gelegenheit daran, daß auch Friedrich Nietzsche
zweifellos zu gewissen Erkenntnissen, oder wenigstens nicht zu der
Klarheit und Gewißheit dieser Erkenntnisse gekommen wäre, wenn er
nicht ein paar Werke von Dostojevskij gelesen hätte. Wichtiger ist in
diesem Zusammenhange nun die Frage, erstens, ob sich die großen
russischen Dichter über den eigenen künstlerischen Gestaltungsvor-
gang in einer Weise geäußert haben, welche die modernen Theorien
über diesen Punkt unterstützen, und zweitens, ob sie als kunstschaffende
Phänomene selber für unsere Forschung besonders dankbare Objekte
sind. Wo das erste mitunter nicht der Fall ist, da ist wenigstens das
zweite in einem so hohen Maße vorhanden, daß die bloße Existenz
dieser Dichter unsere anfangs gestellte Hauptfrage restlos bejahen heißt.
Am klarsten liegen die Dinge bei Gogol. Dieser wußte, daß seine Satire
und seine geniale Karikatur eine Entwertung der Wirklichkeit war, eine
Aggression gegen eine seinen Größenphantasien abholde Wirklichkeit.
Er wußte aber auch ebenso genau und hat das ausführlich beschrieben,
daß seine Karikatur sich noch gegen einen anderen Feind seiner Größen-
ideale richtete, gegen seine eigene Person, gegen die »schlechten«
Seiten seines eigenen Charakters, von denen er sich eingestandener-
maßen durch Abspaltung und Distanzierung »befreien« wollte. Er wußte,
daß sein »Humor« die forcierte Abfuhr konstitutionell bedingter De-
pressionen war. Er kannte seine geheimen Größenideale von Welt-
beglücker- und Prophetentum ganz genau, so wie er auch seine tiefen
Insuffizienzgefühle und deren Herkunft zum Teil sehr gut kannte. Zu
anderem konnte er diesen Abstand nicht finden, und gerade dieses ist
dann mit ungeheurer Wucht in seine Werke eingebrochen. Nur zweierlei
kann ich hier herausheben, daß jedem Leser Gogols als sein Haupt-
charakteristikum auffält: einmal das, was die heutige medizinische Psy-
 
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