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Zeitschrift für christliche Kunst — 19.1906

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Firmenich-Richartz, Eduard: "Frühholländer"
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https://doi.org/10.11588/diglit.4095#0235

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359

1906 — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 12.

360

die Mienen zeigen zum Teil eine heftige
Spannung, in Attitüden und Kostümen waltet
ein anspruchsvoller, höfischer Geschmack, und
der Individualismus beginnt die starren Typen
zu durchglühen. Außer Dülberg hat schon
Eugene Müntz auf die Verwandtschaft dieses
Realismus mit der Art des Pisanello hinge-
wiesen,8) dem sich jedoch nach Max Dvorak9)
diese neue Naturanschauung auch erst in Bur-
gund erschlossen habe. Wenn Dülberg als
Vergleichsmaterial auf Buchmalereien zur
Apokalypse von holländischer Provenienz hin-
weist,10) so ist diese bestimmt von französisch-
burgundischen Vorbildern abhängig. Man
könnte ebensogut das angebliche Skizzenbuch
des Jacques Daliwe in der Berliner Universi-
tätsbibliothek (cod. pict. 74) heranziehen. Ein
viel erfahrener Meister beherrscht die Dar-
stellungsweise der Hofkunst, jene preziöse Ver-
bindung phantastischer Vorstellungen und
detaillierter Lebensbilder, die man als Ro-
mantik zu bezeichnen liebt, und welche bis
ins Quattrocento ziemlich internationale Gel-
tung besaß. Für den niederländischen Ur-
sprung sprechen bei dem Wandbild zu Palermo
außer der alten Tradition, die Manganante,
Mongitore und di Marzo übermittelten, nur
die Bildnisse des Urhebers mit Pinsel und
Malstock und seines Farbenreibers, Spiegel-
bilder von einer markigen Kraft im Umriß
und einer eindringlichen Anschauung der Ge-
sichtszüge und ihres mimischen Lebens, die
auf den Anschluß an Jan van Eyck hinweisen.
Eine Silberstiftzeichnung in der Albertina zu
Wien, Inv. Nr. 4845n) empfehle ich als
weiteren Anhalt zu stilistischer Einordnung.
Das erste charakteristische Werk eines
Holländers auf italienischem Boden ist das
warm empfundene, wenn auch recht hölzern
bewegte Madönnchen in Halbfigur in der
Ambrosiana zu Mailand (Tafel 4). Mit dem
„Cicerone", Max Friedländer, Durand-GreVille

8) Eugene Müntz in »Gazette des beaux arts«
(1901) II S. 223. Er verweist als Urheber des Wand-
bildes auf den Mailander Maler Leonardo da Besozzo,
der 14 58 in Neapel weilte.

9) Max Dvoiäk: „Das Rätsel der Kunst der
Brüder van Eyck". «Jahrbuch der kunsthistorischen
Sammlungen des A. H. Kaiserhauses« (Wien, 1902)
Bd. XXIV. S. 294.

"*) Willem Vogelsang: »Holländische Minia-
turen des späteren Mittelalters.« (Strassburg, 1899)
Tafeln 3—7.

") Schönbrunner und Meder: »Handzeich-
nungen der Albertina.« Bd 111 Nr. 307.

und Valentiner schreibe ich das tiefgefärbte
Miniaturbildchen dem Geertgen tot Sint-Jans
selbst zu. Seiner Schule gehört die Dar-
stellung der Wurzel Jesse beim Grafen Stroga-
noff zu Rom, deren Reproduktion wir mit
gütiger Erlaubnis des Verlegers beifügen (Licht-
drucktafelVI). Ein hoher dekorativer Wert als
Raumfüllung ist dem aufsprießenden Stamm
mit den auf allen Zweigen wachsenden Men-
schenblüten eigen. In schmalen Glasgemälden
wie niederen Predellentafeln ist diese symbo-
lische Vorführung der Geschlechtsfolge so
häufig, daß uns Valentiners Hinweis auf einen
Auftrag von 1490 an die Brüder Mouwerijn
und Claes Simonsz. bei der Bestimmung des
Gemäldes in Rom nicht fördern kann. Mit
der Tropik eines prophetischen Traumgesichtes
(Et egredietur virga de radice Jesse et fios de
radice eius ascendet. Isaias XI, 1) will nun die
materielle, fast triviale Auffassung des Holländers
nicht recht harmonieren, er gefährdet fast die
Würde des Gegenstandes. Als aufgeputzte
Stutzer klettern und balancieren die zwölf
Vorfahren Jesu dicht gedrängt auf dem Baum,
der aus dem Leib des müde gelagerten Ur-
vaters aufsteigt. David mit der Harfe sitzt
auf der untersten Sprosse. Neben dem rasen-
bewachsenen Gartenmäuerchen im Burghof
blickt Isaias auf die Verheißung, ein Doktor
der Theologie als sein Partner weist auf eine
Schriftstelle in seinem Buche hin. Da weder
ein Evangelist noch Kirchenvater dargestellt
ist, hat der Maler vielleicht auf den Autor
eines „Marienlebens" (de nativitate Mariae)
hinweisen wollen. Hergebrachte Typen ge-
winnen bildnisartigen Charakter, und für die
frohe Weltlichkeit dieser Kunst zeugt ein
farbenschimmernder Prunk. Die „Kreuzigung
Christi" in tiefgefärbter Waldlandschaft in den
Uffizien Nr. 906 (Tafel ü) scheint mir nicht in
direkter Abhängigkeit von Geertgen zu stehen.
Der Künstler wurde weit mehr von Schöp-
fungen des Jan van Eyck hingerissen.12) Die
Breittafel mit der Annagelung des Heilandes an
das Kreuz bei Lady Layard in Venedig (Tafel 7)
wird als Frühwerk des Gerard David sonst all-
gemein anerkannt,1") wenn dies Gemälde auch
nicht gleiche Qualitäten wie die zugehörigen

"| Eine veränderte Wiederholung mitden Schachern
bei J. Merzenich in Aachen. Von derselben Hand
u. a. auch Nr. 352 im Amsterdamer Rijks-Museum.
(Publ. der kunsth. Ges. VII 1901, Tafel 25.)

12) E. Freiherr v. Bodenhausen: »Gerard
David und seine Schule.« München, Bruckmann. S. 85.
 
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