Nos sumus
nani gigantum
humeris insidentes
BERNARD VON CHARTRES
EINLEITUNG
Das Problem ...
Zu den bekanntesten Bildern der westlichen Kulturgeschichte gehören die Dar-
stellungen einer von Kreis und Quadrat umgebenen männlichen Figur, deren
Beschreibung sich in den De architectura libri decem des augusteischen
Ingenieurs und Baumeisters Vitruvius Pollio findet. Zu Beginn seines Buches
über den Tempelbau erklärt Vitruv, daß ein Mann mit ausgestreckten Armen
und Beinen einem Kreis eingeschrieben werden kann und mit ausgebreiteten
Händen jenen Flächen entspricht, die nach dem Winkelmaß des Architekten
quadratisch sind. Dieser Figur, ihrer Erörterung durch Vitruv selbst, ihrer
Rezeption in Mittelalter und früher Neuzeit sowie ihrer Bewertung in der Kul-
turgeschichtsschreibung jüngster Zeit gelten die folgenden Ausführungen.
Vitruvs Proportionsfigur ist, so wird bisher angenommen, als ein Symbol für
die mathematische Sympathie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, als
prägnanter Ausdruck einer metaphysisch begründeten Proportionslehre und Ar-
chitekturtheorie verstanden worden: Die Tradition dieser Auslegung erstrecke
sich von der Antike bis zur Gegenwart und erreiche mit der Neubewertung des
Klassischen Altertums zu Beginn der Neuzeit ihren Höhepunkt. Der homo ad
quadratum drücke eine mikrokosmische »Bedeutung« durch seine ausge-
breiteten Arme aus, deren über der Brust gemessene Länge der Höhe der ge-
samten Figur entspreche und so die Ausdehnung der Welt symbolisiere. Der
homo ad circulum habe entweder im Sinne der bei Varro formulierten Ompha-
losmetaphorik oder durch die Symbolik des Kreises selbst einen zutiefst und
offensichtlich kosmologischen Sinn. Die bedeutungsschwangere Prägnanz
beider Figuren sei sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit nicht zu über-
sehen gewesen und habe einen kaum zu überschätzenden ideengeschichtlichen
und praktisch-künstlerischen Einfluß gehabt.
nani gigantum
humeris insidentes
BERNARD VON CHARTRES
EINLEITUNG
Das Problem ...
Zu den bekanntesten Bildern der westlichen Kulturgeschichte gehören die Dar-
stellungen einer von Kreis und Quadrat umgebenen männlichen Figur, deren
Beschreibung sich in den De architectura libri decem des augusteischen
Ingenieurs und Baumeisters Vitruvius Pollio findet. Zu Beginn seines Buches
über den Tempelbau erklärt Vitruv, daß ein Mann mit ausgestreckten Armen
und Beinen einem Kreis eingeschrieben werden kann und mit ausgebreiteten
Händen jenen Flächen entspricht, die nach dem Winkelmaß des Architekten
quadratisch sind. Dieser Figur, ihrer Erörterung durch Vitruv selbst, ihrer
Rezeption in Mittelalter und früher Neuzeit sowie ihrer Bewertung in der Kul-
turgeschichtsschreibung jüngster Zeit gelten die folgenden Ausführungen.
Vitruvs Proportionsfigur ist, so wird bisher angenommen, als ein Symbol für
die mathematische Sympathie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, als
prägnanter Ausdruck einer metaphysisch begründeten Proportionslehre und Ar-
chitekturtheorie verstanden worden: Die Tradition dieser Auslegung erstrecke
sich von der Antike bis zur Gegenwart und erreiche mit der Neubewertung des
Klassischen Altertums zu Beginn der Neuzeit ihren Höhepunkt. Der homo ad
quadratum drücke eine mikrokosmische »Bedeutung« durch seine ausge-
breiteten Arme aus, deren über der Brust gemessene Länge der Höhe der ge-
samten Figur entspreche und so die Ausdehnung der Welt symbolisiere. Der
homo ad circulum habe entweder im Sinne der bei Varro formulierten Ompha-
losmetaphorik oder durch die Symbolik des Kreises selbst einen zutiefst und
offensichtlich kosmologischen Sinn. Die bedeutungsschwangere Prägnanz
beider Figuren sei sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit nicht zu über-
sehen gewesen und habe einen kaum zu überschätzenden ideengeschichtlichen
und praktisch-künstlerischen Einfluß gehabt.