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KAPITEL I

Einladung Warburgs folgend, verbrachte Wittkower im selben Jahr einige Tage
in Hamburg. Vier Jahre später, 1933, trat er in eine dauerhafte Beziehung mit
dem inzwischen nach London umgezogenen Warburg Institute, diesmal nicht
als Gast, sondern als Kurator der photographischen Sammlung.11
Neben einer allgemeinen Verwandtschaft zwischen den frühen Schriften
Wittkowers einerseits und einer mit dem Warburg Institute assoziierten Kultur-
wissenschaft andererseits existiert auch im Fall der Vitruvischen Propor-
tionsfigur eine Verbindung zwischen den beiden Gelehrten; denn der Instituts-
gründer hatte sich Gedanken über jenes später von Wittkower popularisierte
Bild gemacht. Wie Fritz Saxl berichtet, bezeichnete Warburg Vitruvs homo ad
circulum und homo ad quadratum als die »gräcisiert-ästhetische Formulierung«
einer älteren orientalischen Überlieferung (s. u., I.2)12, und Warburg selbst
widmete die zweite der drei einleitenden Tafeln seines Bilderatlas einer Reihe
von Darstellungen, zu denen auch die Proportionsfigur Vitruvs gehörte. Die
Bearbeitung und Publikation dieses Mnemosyne betitelten Projekts galt sowohl
in den letzten Hamburger als auch in den ersten Londoner Jahren des Instituts
als eine wichtige Aufgabe.13 Rudolf Wittkower dürfte als Kurator der photo-
graphischen Sammlung mit den Tafeln jenes Projekts vertraut gewesen sein, das
er in einer früheren Version in Rom und in Hamburg bereits hatte kennenlernen
können. Angesichts der in den ersten Heften des Journal geäußerten
Programmatik und der frühen, von Warburg beeinflußten Artikel Wittkowers
sowie in Anbetracht seiner Tätigkeit am Warburg Institute besteht also Grund
zu der Annahme, daß erste Anregungen für die spätere symbolische Ver-
wendung der Figur Vitruvs aus seinem langjährigen Kontakt mit jenem Institut
folgten.
2. Warburg und Vitruvs Proportionsfigur
Warburgs frühes Interesse an Vitruv wird durch seine eigene Ausgabe von De
architectura belegt, die einige vor der Jahrhundertwende niedergeschriebene
Bemerkungen und Literaturhinweise enthält. Ihn interessierte damals besonders
die philologische Problematik jenes Abschnitts, in dem Vitruv von den Maßen
des menschlichen Körpers handelt.14 Etliche Jahre später, nachdem er 1924 aus
psychiatrischer Behandlung entlassen worden war, wandte er sich erneut der
Proportionsfigur Vitruvs zu, doch nun unter ideengeschichtlichen und erkennt-
nistheoretischen Gesichtspunkten. Im 1923 erschienenen zweiten Band der
»Zeitschrift für Indologie und Iranistik« hatte er eine Bemerkung über den
Menschen als Mikrokosmos gefunden, die aus dem sogenannten Bundahisn,

11 Vgl. Warburg Institute. Annual Report 1934-1935, The Warburg Institute, London, Signatur
NBM80, S.10; E. H. GOMBRICH, Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970
(seitengleich mit der 2.Aufl., Oxford 1986), passim und S.271; C. H. LANDAUER, The Survival
of Antiquity: The German Years of the Warburg Institute, Phil.Diss, Yale 1984, S.285 und
S.288-289.

12 F. SAXL, Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften des
lateinischen Mittelalters der National-Bibliothek in Wien, 2Bde., Heidelberg 1927, Bd.2, S.44.

13 Vgl. F. SAXL/G. BING, Bericht über die Tätigkeit der Bibliothek Warburg in den Jahren 1930
und 1931, London, The Warburg Institute, Signatur NBM80, S.5-6; Annual Report 1934-1935,
S.8; GOMBRICH, Warburg, S.3.

14 Vgl. Warburgs Vitruvausgabe, London, Warburg Institute, Signatur KFH125: Des Vitruvius
zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und durch Anmerkungen und Risse erläutert von Dr.
Franz Reber, Stuttgart 1865.
 
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