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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0021
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WITTKOWER: ARCHITECTURAL PRINCIPLES

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einer Kompilation altpersischer Weisheit stammt. Der betreffende Abschnitt,
den Warburg sofort mit Vitruv in Verbindung brachte, lautet dort in deutscher
Übersetzung: »Ebenso wie die Welt gerade so breit wie lang ist: geradeso ist
auch der Mensch, jeder einzelne, so groß wie seine eigene Armweite (?).«
Warburg versah diesen Satz mit der Bemerkung »vgl. fig. b[ei] Vitruvius.«15
Auf diese Notiz muß er bald darauf Fritz Saxl aufmerksam gemacht haben,
denn dieser schreibt in dem 1926 abgeschlossenen zweiten Band seines
»Verzeichnis' astrologischer Handschriften«:
Warburg hat nun weiter als erster die Wichtigkeit dieser Stelle für die Geschichte
der Kunsttheorie erkannt. Die Vorstellung nämlich, daß die Länge des Menschen
mit seiner Armweite übereinstimmt, hat, losgelöst von der Elementarlehre, ihren
Platz im rein ästhetischen Denken der Antike. [...] Warburgs Annahme, daß wir im
Bundahisn einen Niederschlag derselben orientalischen Spekulation vor uns
haben, deren gräcisiert-ästhetische Formulierung Vitruv überliefert, ist unbe-
streitbar. Wie bei den Arabern und noch bei der hl. Hildegard war ihr Gegenstand
die Zusammensetzung der Elemente des Alls und die Proportion seiner Glieder [,]
und sie entsprang einem einheitlichen religiösen Denken, von dem sich das
naturphilosophische wie das ästhetische losgelöst haben.16
Für Warburg war also Vitruvs Figur die »gräcisiert-ästhetische Formulierung«
einer ursprünglich orientalischen Spekulation über den Menschen als Mikrokos-
mos, eine Form, welche die Kunsttheorie beeinflußt habe und, wie Saxl weiter
schreibt, neben dem religiösen Aspekt »auch das rein ästhetisch spekulierende
Denken« repräsentiere.
Zusätzliche Informationen über Warburgs Verständnis der Vitruvischen
Proportionsfigur finden sich in den Notizen zur zweiten Tafel (B) des mögli-
cherweise schon 1924 begonnenen, doch schließlich unvollendet gebliebenen
Bilderatlas.17 Weiteren Aufschluß gibt eine handschriftliche Bemerkung zu
Saxls Vortrag über den Mikrokosmos in mittelalterlichen Bildern.
Das Mnemosyne betitelte Projekt des Bilderatlas war ein Versuch, die
Funktion und Wirkung in der Antike entstandener »Pathosformeln« mithilfe
einer umfangreichen und kommentierten Bilderreihe zu demonstrieren.18 Diese
Bilderreihe diente im besonderen der - wie Warburg sich ausdrückte -
»Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der
Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance.«19
Die Tafeln dieser Reihe sind in verschiedenen Versionen, doch mit nur wenigen

15 A. GÖTZE, Persische Weisheit in griechischem Gewande. Ein Beitrag zur Geschichte der Mi-
krokosmosidee, in: Zeitschrift für Indologie und Iranistik 2.1923, S.60-98, S.61 (die Übersetzung
ist unsicher); Exemplar in London, Warburg Institute, Signatur PN80; zum Bundahisn vgl. auch
J. DUCHESNE-GUILLEMIN, La Religion de l'lran ancien (Mana. Introduction ä l'histoire des
religions 1.3.), Paris 1962, S.52-56.

16 SAXL, Verzeichnis astrologischer Handschriften, S.44-45.

17 Vgl. SAXL/BING, Bericht 1930-1931, S.6-7; GOMBRICH, Warburg, S.261 und S.283-306;
M. WARNKE, »Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz«, in: HOFMANN/SYAM-
KEN/WARNKE, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt/M. 1980,
S.113-189, bes. S.169-170; R. KANY, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und
die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987,
S.179-185.

18 Vgl. Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Tagebuch, Bd.7, 1928/1929 (8.4.1929),
S.263: »Ein Versuch kunstgeschichtlicher Kulturwissenschaft 2Bde Text, dazu ein Atlas mit etwa
2000 Abb.[...].«

19 Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Tagebuch, Bd.9, 1929, S.57 (6.10.1929); vgl.
auch SAXL/BING, Bericht 1930 und 1931, S.5-6.
 
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