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WITTKOWER: ARCHITECTURAL PRINCIPLES

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Gespenster oder Alpträume - die Rede ist.43 Damit aber verlegte er eine
gegebenenfalls existierende symbolische Auffassung in die Tiefen individueller
Vorstellungskraft (imagination); die historische Identifizierung und Analyse
konkreter Bilder andererseits stand damit kaum noch zur Debatte.
Die einseitige und dadurch irreführende Auslegung der Proportionsfigur
Vitruvs zeigt sich in Wittkowers Beurteilung jenes im Kreis eingeschriebenen
Mannes, den Francesco Giorgi zur Veranschaulichung des kreisförmigen
Strebens zu Gott erläutert hatte (vgl. Kap. XII). Seinem symbolischen
Verständnis von Vitruvs homo ad circulum folgend identifizierte er Giorgis
Darstellung, die bildlich der Tradition von Atlasillustrationen und inhaltlich
pseudo-hermetischen und Plotinischen Gedanken verpflichtet ist, mit Vitruvs
Proportionsfigur. Dadurch hatte die symbolische Aussagekraft des Bildes eine
Präferenz gegenüber dem inhaltlich differenzierteren Wert der beiden getrennt
voneinander existierenden Figuren gewonnen; die Unterscheidung zwischen
dem historischen und einem symbolischen Verständnis war nun kaum noch
möglich.
Das symbolische Verständnis der Proportionsfigur Vitruvs wurzelte nicht
allein im Nachwirken der Gedanken Warburgs; neben diesem Impuls und der
genannten Verwechslung des durch Vitruv überlieferten homo ad circulum mit
der bei Giorgi erörterten Atlasdarstellung gab es andere Einflüsse, die
Wittkower selbst nennt und die seine symbolische Interpretation jener Figur
beinahe unvermeidlich erscheinen ließen. Zunächst war er davon überzeugt, daß
die Proportionsfigur Vitruvs das mittelalterliche Denken beeinflußt habe; denn
er kannte jenen französischen Dialog Placides et Timeo, dessen anonymer
Verfasser eine ähnliche Darstellung wie diejenige Vitruvs mikrokosmisch
interpretiert hatte, und er stützte sich außerdem auf die zweifelhaften
Argumente Edgar de Bruynes über die mittelalterliche Ästhetik.44 Ähnliche
Anschauungen formulierte auch Karl Borinski, dessen Buch Wittkower bekannt
war.45 Zusätzlich hatte er selbst Zeichnungen des 17. Jahrhunderts entdeckt, in
denen eine von Vitruv inspirierte Figur den ganzen Weltkreis symbolisierte und
somit als Mikrokosmos aufgefaßt werden konnte.46 Das allgemeinere
Verständnis der Vitruvischen Proportionsfigur als mikrokosmisches Symbol
kosmischer Harmonie schließlich beruht grundsätzlich auf der von Erwin
Panofsky und P. Nicco Fasola formulierten Überzeugung, daß eine meta-
physische, sowohl vom Körper des Menschen als auch von den Harmonien des
Universums abgeleitete Proportionslehre die Künstler und Architekten der Re-
naissance bei ihrem Tun maßgeblich beeinflußt habe.47 In den Ausführungen
Panofskys und Nicco Fasolas fand er auch den entscheidenden Hinweis auf die

43 So er selbst einige Jahre früher; vgl. WUTKOWER, Marvels of the East, S.159: monsters [...]
have always haunted human imagination.

44 WITTKOWER, Architectural Principles, S.15, Anm.3 (vgl. die Problematisierung dieses
Zusammenhangs in Kap. III.); das Buch de Bruynes wurde im Warburg Institute (Signatur
CIB 10) mit der Anschaffungsnummer 48/419 am 1.3.1948 der Bibliothek einverleibt; vgl. den
Zugangskatalog für 1948 ebd.

45 K. BORINSKI, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie von Ausgang des klassischen Altertums
bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt, 2Bde., Leipzig 1914-1924, Bd.l, S.60 und S.69;
Wittkower erwähnt dies Buch in einem Brief vom i2. Januar 1944 an Frances Yates, London,
Warburg Institute.

46 R. WITTKOWER, A Counter-Project to Bernini's »Piazza di San Pietro«, in: Journal of the
Warburg and Courtauld Institutes 3.1939/40, S.88-106.

47 Vgl. WITTKOWER, Architectural Principles, S.89-90, Anm.2.
 
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