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KAPITEL I
durch Francesco Giorgi interpretierte Figur im Kreis.48 Dieser Hinweis mag der
letzte Grund dafür gewesen sein, Vitruvs homo ad circulum mit dem Zen-
tralbaugedanken zu verbinden und schließlich zum Symbol der Renaissance-
architektur überhaupt zu erheben. Mit Vitruvs Proportionsfigur konnte
Wittkower schließlich seinen Thesen zur Architekturtheorie eine (sinn-)
bildhafte Form geben, deren Symbolik jene Thesen auf einen anschaulichen
Begriff brachte. Ebenso kategorisch verfuhr er mit dem Titel seines Buches;
zunächst als Studies in Renaissance Architecture in Druck gegeben49, wurde es
kurz vor seinem Erscheinen programmatisch in Architectural Principles in the
Age of Humanism umbenannt.50 Statt der ideengeschichtlich neutralen Studies,
die zunächst keine Bewertung des Gegenstands durch den Historiker erkennen
lassen, heißt es nun Principles - eine entscheidende Änderung, da »Prinzipien«
oder »Grundlagen« bereits eine anspruchsvolle Verallgemeinerung historischer
Umstände implizieren.
Wittkowers symbolische Deutung der Proportionsfigur Vitruvs ist angesichts
der im folgenden zu analysierenden Quellen nicht haltbar; allerdings wäre sie
für sein wichtigstes Argument, daß sowohl die Architektur der Renaissance im
allgemeinen als auch der Zentralbau im besonderen nicht rein ästhetisch und
formal begründet seien51, sondern eine religiöse und metaphysische Bedeutung
hätten, nicht notwendig gewesen; denn dasselbe Argument hatte er in den
Jahren 1940 bis 1945 in einigen Artikeln veröffentlicht, die später fast
unverändert in die Architectural Principles übernommen wurden.52 Lediglich
die einführenden Gedanken zum Zentralbau in der Renaissance waren vorher
noch nicht erschienen, und ihnen applizierte er sein symbolisches Verständnis
der Proportionsfigur Vitruvs.
5. Anthropomorphe Veranschaulichungen
Mit seiner vorwiegend symbolischen Interpretation des homo vitruvianus
verkannte Rudolf Wittkower - wie die Ausführungen der folgenden Kapitel
zeigen - die unterschiedlichen Interessen, die Autoren des 15. und 16.
Jahrhunderts der Proportionsfigur Vitruvs entgegenbrachten. Daneben ließ er
den Umstand unberücksichtigt, daß unabhängig von Vitruv andere Figuren
existieren, die bestimmte Sachverhalte anthropomorph veranschaulichen, und
daß solche Veranschaulichungen in vergangenen Epochen weniger en-
thusiastisch gefeiert wurden als heute. Ein instruktives und bisher wenig beach-
tetes Beispiel hierfür findet sich in Caius Julius Solinus' (3. Jahrh.) Collectanea
48 E. PANOFSKY, Die Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung, in: Monatshefte für
Kunstwissenschaft 14.1921, S.188-219, bes. S.208-210; PIERO DELLA FRANCESCA, De
prospettiva pingendi. Edizione di G. Nicco Fasola, Florenz 1942, S.15-16 (im Warburg Institute
ab dem 6.2.1946).
49 Vgl. The Warburg Institute, Annual Report 1947-1948, November 1948, S.10: Dr. Wittkower's
»Studies in Renaissance Architecture« has gone to press.
50 Vgl. The Warburg Institute, Annual Report 1948-1949, November 1949, S.10: »Architectural
Principles« [...] now are being bound.
51 Vgl. Wittkowers Vorwort zur dritten Auflage der »Architectural Principles«, London 1962, S.
V.
52 R. WITTKOWER, Alberti's Approach to Antiquity in Architecture, in: Journal of the Warburg
and Courtauld Institutes 4.1940/41, S.1-18; Principles of Palladio's Architecture, ebd. 7.1944,
S.102-122, und ebd. 8.1945, S.68-106.
KAPITEL I
durch Francesco Giorgi interpretierte Figur im Kreis.48 Dieser Hinweis mag der
letzte Grund dafür gewesen sein, Vitruvs homo ad circulum mit dem Zen-
tralbaugedanken zu verbinden und schließlich zum Symbol der Renaissance-
architektur überhaupt zu erheben. Mit Vitruvs Proportionsfigur konnte
Wittkower schließlich seinen Thesen zur Architekturtheorie eine (sinn-)
bildhafte Form geben, deren Symbolik jene Thesen auf einen anschaulichen
Begriff brachte. Ebenso kategorisch verfuhr er mit dem Titel seines Buches;
zunächst als Studies in Renaissance Architecture in Druck gegeben49, wurde es
kurz vor seinem Erscheinen programmatisch in Architectural Principles in the
Age of Humanism umbenannt.50 Statt der ideengeschichtlich neutralen Studies,
die zunächst keine Bewertung des Gegenstands durch den Historiker erkennen
lassen, heißt es nun Principles - eine entscheidende Änderung, da »Prinzipien«
oder »Grundlagen« bereits eine anspruchsvolle Verallgemeinerung historischer
Umstände implizieren.
Wittkowers symbolische Deutung der Proportionsfigur Vitruvs ist angesichts
der im folgenden zu analysierenden Quellen nicht haltbar; allerdings wäre sie
für sein wichtigstes Argument, daß sowohl die Architektur der Renaissance im
allgemeinen als auch der Zentralbau im besonderen nicht rein ästhetisch und
formal begründet seien51, sondern eine religiöse und metaphysische Bedeutung
hätten, nicht notwendig gewesen; denn dasselbe Argument hatte er in den
Jahren 1940 bis 1945 in einigen Artikeln veröffentlicht, die später fast
unverändert in die Architectural Principles übernommen wurden.52 Lediglich
die einführenden Gedanken zum Zentralbau in der Renaissance waren vorher
noch nicht erschienen, und ihnen applizierte er sein symbolisches Verständnis
der Proportionsfigur Vitruvs.
5. Anthropomorphe Veranschaulichungen
Mit seiner vorwiegend symbolischen Interpretation des homo vitruvianus
verkannte Rudolf Wittkower - wie die Ausführungen der folgenden Kapitel
zeigen - die unterschiedlichen Interessen, die Autoren des 15. und 16.
Jahrhunderts der Proportionsfigur Vitruvs entgegenbrachten. Daneben ließ er
den Umstand unberücksichtigt, daß unabhängig von Vitruv andere Figuren
existieren, die bestimmte Sachverhalte anthropomorph veranschaulichen, und
daß solche Veranschaulichungen in vergangenen Epochen weniger en-
thusiastisch gefeiert wurden als heute. Ein instruktives und bisher wenig beach-
tetes Beispiel hierfür findet sich in Caius Julius Solinus' (3. Jahrh.) Collectanea
48 E. PANOFSKY, Die Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung, in: Monatshefte für
Kunstwissenschaft 14.1921, S.188-219, bes. S.208-210; PIERO DELLA FRANCESCA, De
prospettiva pingendi. Edizione di G. Nicco Fasola, Florenz 1942, S.15-16 (im Warburg Institute
ab dem 6.2.1946).
49 Vgl. The Warburg Institute, Annual Report 1947-1948, November 1948, S.10: Dr. Wittkower's
»Studies in Renaissance Architecture« has gone to press.
50 Vgl. The Warburg Institute, Annual Report 1948-1949, November 1949, S.10: »Architectural
Principles« [...] now are being bound.
51 Vgl. Wittkowers Vorwort zur dritten Auflage der »Architectural Principles«, London 1962, S.
V.
52 R. WITTKOWER, Alberti's Approach to Antiquity in Architecture, in: Journal of the Warburg
and Courtauld Institutes 4.1940/41, S.1-18; Principles of Palladio's Architecture, ebd. 7.1944,
S.102-122, und ebd. 8.1945, S.68-106.