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KAPITEL I

scher Metrologie zum (heute weniger bekannten) anthropomorphen Alltag; sie
waren ebensowenig außergewöhnlich wie der Gebrauch des Klafters oder
anderer anthropomorpher Maßeinheiten vor der Einführung des Meters.65 Diese
praktischen Veranschaulichungen - sowohl abhängig als auch unabhängig von
Vitruv - konnten in bestimmter Weise interpretiert werden; so war etwa der
Klafter einerseits der Gegenstand ausschließlich praktischer Erwägungen, an-
dererseits aber auch - nämlich im Bundahisn sowie bei Solinus und Hildegard -
das Objekt naturphilosophischer oder moralischer Spekulationen. Eine weitere
Möglichkeit findet sich bei Autoren wie Geofroy Tory66 und Lodovico Celio
Ricchieri67, die das Klaftermaß mit dem gekreuzigten Christus identifizierten. In
diesen Fällen bekommen zunächst nicht ideengeschichtlich, sondern praktisch
hergeleitete anthropomorphe Anschauungen einen bestimmten »Sinn« und
möglicherweise eine symbolische »Bedeutung«; sie können dann - in An-
lehnung an eine Formulierung Ernst Cassirers - als »symbolische Formen« und
als konkrete Zeichen oder Symbole verstanden werden, an die ein »geistiger
Bedeutungsgehalt« geknüpft ist.68 Die wichtigsten Interpretationen des homo
vitruvianus im 15. und 16. Jahrhundert entziehen sich allerdings einem solchen
Erklärungsmodell.

65 Vgl. Kap. II und etwa JACQUES ANDROUET DU CERCEAU, De architectura opus, Paris
1559, fol.AijV-Aivr; CHARLES DE BOVELLES, Geometrie practique, Paris 1549 (zuerst 1542),
c.54r (d.i. Kap.7).

66 GEOFROY TORY, Champflevry, Paris 1529, fol.31r.

67 CELIO RICCHIERI, Lectionvm antiquarvm libri XXX, fol.58-59 (der Autor bezieht sich hier
ausdrücklich auf Solinus, nicht auf Vitruv); vgl. auch Kap. VIII.1 (P. Cataneo).

68 Vgl. E. CASSIRER, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften,
in: Vorträge der Bibliothek Warburg. Herausgegeben von Fritz Saxl. Vorträge 1921-1922,
Leipzig/Berlin 1923, S.11-39, S.15.
 
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